Roman Nies

Der Hebräerbrief - Ein heilsgeschichtlicher Kommentar


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Zeit, als die Verfolgung durch die Staatskirche noch nicht begonnen hatte. Dafür gab es eine Verfolgung durch Juden und das Heidentum, denen diese jüdische Sekte, als welche diese neue Glaubensgemeinschaft wahrgenommen wurde, ein Ärgernis war. Dieser Druck hatte ausgereicht, um viele, die sich der Bewegung angeschlossen hatten, aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen. Und auch hier gilt das Gleiche wie bei den Mahnungen in den Briefen von Petrus, Johannes und Paulus: es gab auch viele Mitläufer und Glaubensnovizen, die nicht über die innere Stärke verfügten, allen Herausforderungen gewachsen zu sein. Sie befanden sich in einem eher feindlichen Umfeld und die nächsten Angehörigen, die oft aus der eigenen Familie kamen, waren nicht selten die schärfsten Gegner.

      Wer sich heute als Angehöriger einer anderen Religion zum Christentum wendet, kann vielleicht seine Familie verlassen, das Dorf, die Stadt, vielleicht sogar das Land. Europa und Nordamerika haben die Fähigkeit und den politischen Willen Flüchtlinge aufzunehmen, wenn sie in ihren Herkunftsländern verfolgt werden. Damals stand die ohnehin fragile Existenz in den Provinzen des Römischen Reichs erst recht auf der Kippe, wenn man sich aus der Sippe entfernte. Das Leben war härter und kürzer im Vergleich zum Leben in den heutigen Wohlfahrtsstaaten, in denen der Staat viele Aufgaben der Familie übernommen hat. Man braucht keine Familie zum Überleben. Und doch ist es auch heutzutage noch für Muslime nicht gefahrlos möglich, die Religion zu wechseln, ganz gleich in welchem Staat sie leben. Auch Juden akzeptieren es in der Regel nicht, wenn einer der ihren Christ wird. *4

      Wenn die „Hebräer“, die der Verfasser kritisch in seinem Brief anschreibt, noch wie „Milchbubis“ sind (Heb 5,12), dann verwundert es nicht, dass ihnen die Verzögerung der Ankunft des Messias zu einem Glaubenshindernis wurde. Das eigentliche Problem war ja nicht, dass der Messias noch nicht kam, denn wer sich einmal für den Messias entschieden hat, der lebt und stirbt für Ihn, wie es Paulus einmal gesagt hatte (Gal 2,19-20). Das Problem war eher, dass es immer geheißen hatte, Jesus komme bald zurück in Herrlichkeit. Er kam aber doch nicht so bald, wie man es selber erwartet hatte. Wer glaubensschwach ist, wird noch glaubensschwächer, wenn etwas nicht den Erwartungen entspricht. „Was stimmt jetzt noch?“ fragten sich manche. Dabei sinkt die Bereitschaft, überhaupt noch etwas zu glauben. Man begnügt sich mit der Milch der Glaubensgrundlagen, weil sie leichter verdaulich und bekömmlicher ist, als feste Speise. Und sie hat auch eine Unverbindlichkeit, die vermeintliche, aber gewollte Freiräume schafft. So ist auch heute im 21. Jahrhundert weitgehend die Verfassung der Christenheit, wenn der Glaube überhaupt noch darüber hinausgeht, lediglich einem Kulturkreis anzugehören, der bestimmte Werte zu verteidigen hat.

      Der Verfasser des Hebräerbriefes schreibt gegen diese Glaubens-Suppenesser und Zweifler an der Verheißung an. *5 Sie sind glaubensmüde und schwerhörig, schlaff und wankend geworden. *6 Sie sind nur noch Hoffende, nicht mehr Erwartende (Heb b10,35-39). Der Hebräerbrief wird so zu einem Mahnbrief. Wie konnte es zu dieser Situation kommen?

      Christus war nicht der einzige Heiland. Im ersten Jahrhundert gab es viele Konkurrenten. Jesus war im ersten Jahrhundert nicht einmal der bekannteste Heilsgott. Asklepios war damals die Nummer eins der Wundergötter. Ihn gab es schon seit 500 Jahren als Gott, der angebetet worden ist. Und er würde noch drei Jahrhunderte weiter „regieren“, bevor er tatsächlich von Jesus – religionsgeschichtlich gesehen – abgelöst wurde.

      Im östlichen Mittelmeer hatte man außerdem die Lokalgottheiten, die bei einem drohenden Unheil oder bei Krankheit um Hilfe angerufen werden konnten. Wer sich von diesen nichtjüdischen Menschen für das Christentum interessierte, tat das also nicht unbedingt deshalb, weil er dem Evangelium glaubte oder weil ihn die Geschichte des Jesus Christus oder die Bibel der Juden irgendwie beeindruckte. Vielleicht wollte er nur noch auf eine weitere Quelle des Heils zurückgreifen. Wenn Asklepios nicht half, oder gerade nicht verfügbar war, weil man ihm nicht geopfert hatte, dann konnte man sich ja diesem jüdischen Jesus zuwenden. Auch solche „lauen“ Leute befanden sich im Umfeld der ersten Gemeinde. *7

      Das besondere bei Asklepios war, dass er ursprünglich ein Schlangengott war, seine Heilkraft aber von Apollon, seinem Vater, geerbt hatte. Sein Stern ging auf, seitdem es in Epidauros auffällig viele Wunder bei seiner Anbetung gegeben hatte. Das Interessante an der Geschichte ist aus biblischer Sicht, dass Gott JHWH das Schlangensymbol bei den Israeliten in der Wüstenwanderung benutzt hat. Gott hatte Mose geboten, dass er eine eherne Schlange herstelle und auf eine Stange hefte (4 Mos 21,8). Wer von einer Schlange gebissen würde, sollte sie anschauen und dadurch geheilt werden. Das Symbol der Ärzte zeigt genau dieses Schaustück, wo es jedoch als Äskulapstab bezeichnet wird. Das ist sonderbar, aber nicht außergewöhnlich, denn biblische Symbole, Inhalte und Ereignisse tauchen in der Geschichte des Heidentums meist im Zusammenhang mit Legenden und Kulten auf, die zumindest zum Teil ihre Unglaubwürdigkeit bewiesen haben. Das trifft nicht auf die biblischen Sachverhalte zu. *8 JHWH tritt also in der Ärzteschaft in eine gewisse Konkurrenz zu diesem Asklepios. Aber eher ist es umgekehrt, denn JHWH war vor Asklepios. Irgendwie scheinen Israeliten oder jedenfalls das, was sie zu ihrer Heilskunst zählten, auf die griechischen Inseln gelangt zu sein, wo sich dieser Schlangen-Stabglaube erhalten hat, denn es ist unwahrscheinlich, dass sich neben der biblischen Geschichte noch etwas Ähnliches unabhängig davon entwickelt hat.

      Die Konkurrenzen zur Bibel werden in der Bibel selbst genannt und beginnen bereits bei 1 Mos 3, wo sie als Manipulation des Widersachers Gottes gekennzeichnet werden. Dort ist es die satanische Schlange, die Zweifel an Gott sät. Die Schlange fragt „Sollte Gott gesagt haben…?“, wobei sie beides hervorrufen möchte, Zweifel an der Rationalität und Berechtigung von Gottes Ordnung und an Gottes Autorität. Es fällt auf, dass auch das gegenwärtige Weltbild der atheistischen Rationalisten, etwa mit der Evolutionstheorie, voll und ganz dieser Frage der Schlange entspricht. Die Folge davon ist, dass die Natur („Mutter Erde“) an sich als ein von Gott, dem Schöpfer, unabhängiger Wert betrachtet wird und (ihre Bewahrung) über überlieferte Werte gestellt wird bzw. werden muss. Die Bedrohung der menschlichen Gesellschaft ist nicht Folge einer sich Gott unterordnenden Menschheit, sondern Folge der beständigen Missachtung der Autorität und der Ordnungen Gottes. Das lehrt die Bibel schon auf ihren ersten Seiten, wo sie auf den engen Zusammenhang zwischen Gott, der Schöpfung und dem Menschen hinweist.

      Dann aber ist klar, dass auch schon im ersten Jahrhundert im Zuge der Ausbreitung des Christentums, diese Konkurrenzen benutzt wurden, um Verwirrung zu stiften. Die Frage ist also: Welcher Schlange wendet man sich zu. Der Schlange von Mose oder der Schlange von Asklepios-Apollon?

      Apollon ist im alten Griechenland der Gott des Lichts und des Heils. Er wurde von den Griechen auch mit dem Sonnengott Helios gleichgesetzt. Dieser entspricht aber dem Baal des antiken Orients. Baal ist der Widersachergott JHWHs im Alten Testament. So schließt sich der Kreis. Da sich das Christentum zuerst im östlichen Mittelmeer, insbesondere an der Levante, in Griechenland und in Kleinasien verbreitete, war zu erwarten, dass der Widersacher gerade dort mit den dort zur Verfügung stehenden Mitteln mobil machen würde. Er tat das unter anderem auf zwei Wegen. Der eine ist der Weg des kulturellen Brauchtums. Dazu gehört auch die Religion. Der andere Weg ist der Weg der Philosophie. Je lehrhafter eine Religion oder Weltanschauung nämlich wird, desto mehr muss sie Antworten auf theoretische und abstrakte Fragen geben können. Religion ohne Philosophie ist schwach und wenig tragfähig. Aus den Briefen der Apostel geht hervor, dass für die neue, christliche Glaubensrichtung eine große Gefahr von den „Elementen“ der Welt ausging. Diese Elemente versklaven die Menschen (Gal 4,3), wenn sie sich darauf einlassen. Sklaven sind aber Unmündige. Sie sind zu ihrer Unfreiheit verführt worden. Anstatt zum Heil, begeben sie sich in Abhängigkeit und bemerken das noch nicht einmal.

      Manch einer mag sich fragen, warum die Völker der antiken Welt so leichtgläubig waren, dass sie ein solches Pantheon von Göttern füllten. Man denkt, das Volk sei unwissend und abergläubisch gewesen und die Naturwissenschaften gab es ja noch nicht. Doch so gut wie nichts stimmt an dieser Vorstellung. Der antike Mensch war nicht abergläubischer als der Mensch von heute. Es ist ein großer Irrtum, wenn man denkt, dass in Epidauros oder Delphi oder Ephesos große Heiligtümer entstanden wären, nur um ein religiöses Bedürfnis der Menschen zu befriedigen. Auch hier gibt die Bibel ein ganz anderes Bild. Zwar sagt die Bibel, dass die Götzen der Heiden Nichtse seien. *9 Jedoch ist damit nicht gesagt, dass sie nicht