Verlust der Möglichkeit, doch wenigstens die rituellen Torahvorschriften erfüllen zu können, erfolgte keine reuige Umkehr. Das Angebot der messianischen Juden zur Umkehr kam für die übrigen Juden nicht in Frage. Eine geistliche Verstockung setzte ein, die bis auf den heutigen Tag beim Großteil des Judentums geblieben ist. Nunmehr nach dem Ende des Tempeldienstes bestimmten nur noch die Pharisäer die Geschicke des religiösen Judentums. Die Sadduzäer waren obsolet. Jesus hatte vor allem die Pharisäer, die Hüter der Torah, immer wieder kritisiert, während die Sadduzäer, die den Tempeldienst unter sich hatten, glimpflicher davonkamen. Doch Sadduzäer gab es nun nicht mehr. Schriftgelehrte brauchte man weiterhin. Manche Juden erinnerten sich auch an die Prophezeiung Jesu, dass der Tempel abgerissen werden würde. Es kann auch vorgekommen sein, dass messianische Juden den anderen Juden das aufs ungesäuerte, aber umso bitterere Brot schmierten. Allzu oft wird es aber nicht vorgekommen sein, denn zu schmerzlich war der Verlust des Tempels für alle Juden. Wie in solchen Fällen üblich, führten Sticheleien und Wortgefechte nicht zu einer Mehrliebe für die Sache des Messias aus Nazareth.
Es wird wohl nicht mehr lange gedauert haben, dass in eines der bekanntesten jüdischen Gebete eine Bitte aufgenommen worden ist, dass Gott die Christen, „Minnim“ genannt, verfluchen und auslöschen wolle. Es ist gut vorstellbar, dass unter dem einsetzenden Druck aus dem Judentum manche messianischen Juden „umfielen“ oder „lau“ wurden. Für den Verfasser des Hebräerbriefes gab es damit den Anlass, seinen Brief zu schreiben. Diese Phase, in der sich das messianische Judentum in dieser Situation befand, dass das Judentum darauf bedacht war, die Kräfte zum Überleben zu bündeln und sich nicht in Sektiererei und Irrlehren zusätzlich zu erschöpfen, dauerte etwa von dem Jahr 70, dem Jahr der nationalen Katastrophe, bis zur nächsten großen nationalen Katastrophe mit den Bar Kochba Aufständen ab dem Jahr 135, als die Juden wiederum versuchten, die lästige römische Oberherrschaft abzuwerfen. Das Ergebnis des Zweiten Jüdischen Kriegs war identisch mit dem Ausgang des Ersten. Die Römer töteten hunderttausende Juden und verwandelten Jerusalem nun in eine vollends heidnische Stadt. Anstelle des Zweiten Tempels war längst ein Tempel zu Ehren des Zeus-Jupiter entstanden. Es dauerte noch einmal knapp 200 Jahre unter den heidnischen Römern, bis eine neue Ära heranbrach, die für die Juden allerdings keine Verbesserung brachte.
Das Heilige Land wurde zwar weiterhin von Römern beherrscht, aber die hatten inzwischen zu einem maßgeblichen Teil ihre Religionszugehörigkeit oder zumindest ihre Haltung gegenüber den Christen geändert. Die Römer im späteren Bereich der orthodoxen Varianten waren auch solche Christen geworden. *47 Man kann sich kaum eine größere Demütigung der Juden vorstellen. Seit vierhundert Jahren war man mehr oder weniger nichts weiter als eine römische Provinz. Die Heiden hatten die Oberhoheit über die heiligen Stätten und bauten ihre heidnischen Tempel auf heiligem Boden! Rom blieb, aber war christlich geworden! Und diejenigen, die man vorher abgewiesen, verlacht und sogar verfolgt hatte, waren jetzt zu den Herren geworden! Die einst Unterdrückten, schwangen jetzt das Zepter. Sie drehten den Spieß um und ließen nun die Juden spüren, dass sie eine verlorene Nation war, an die Gott nicht mehr dachte.
Anstatt dass sich Judentum und Christentum über den Hellenismus annäherten, kam es zur vollständigen Entzweiung der Brüderreligionen. Jeder beharrte darauf, das wahre Volk Gottes zu sein und die Verwerfung des anderen behaupten zu können. Dabei waren beide bis zum vierten Jahrhundert zutiefst vom Hellenismus durchdrungen.
Was war die besondere Attraktion des Hellenismus für das Judentum? Die Bibel bedarf nicht der Ergänzung durch die griechische Philosophie. Aber die hellenisierten Juden glaubten in der griechischen Philosophie eine Ergänzung zur Torah und zur Erklärung der Funktion der Tugend, die Gott fordert, gefunden zu haben. Einige entdeckten auch, dass man die Tugend nicht bloß als heilsame Forderung Gottes verstehen müsste, sondern dass man ihre Personifizierung erkennen sollte. Eines gelang diesem hellenisierten Torah-Judentum jedoch nicht, zu erkennen, dass die Personifikation auf den Menschen überspringen müsste und dass dies durch jemand geschehen müsste, der beides war, Mensch und Gott. Die göttliche Natur des Jesus von Nazareth macht konsequent Seine Stellvertretung für alle Menschen, insbesondere auch die erforderliche umfangreiche Entsühnung und Versöhnung mit Gott vollgültig. Die menschliche Natur ist das Gegenüber Gottes, um das es der gesamten Schöpfung wegen geht. Sie soll nämlich ihrem Ziel zum Zwecke der Verherrlichung Gottes zugeführt werden.
Um dies verstehen zu können, hätten die Juden erkennen müssen, dass das Heil Israels nur eine Etappe für etwas Größeres und Allumfassenderes ist. Und tatsächlich bildete sich gerade zur hellenistischen Zeit, etwa um die Zeit des ersten Auftretens des Messias Israels, eine universalistische Schau aus, die einerseits von der jüdischen Überlieferung selbst stammt, denn das Alte Testament ist voll von Einbezugnahmen der Nationen und aller Völker in das messianische Heil. *48 Das war Standardwissen: „Alle Nationen, die du gemacht hast, werden kommen und vor dir anbeten, Herr, und deinen Namen verherrlichen.“ (Ps 86,9) Andererseits sind griechische Philosophen für das Denken über den jüdischen Tellerrand hinaus verantwortlich, denn sie trachteten schon immer danach, die Menschheit in ihre Überlegungen über das Werden des Weltganzen im Verhältnis zur Gottheit mit einzubeziehen.
Es gibt also eine direkte Verbindung zwischen dem universalistischen Heilsangebot Gottes und Seinem Wesen, das nur als vollkommen tugendhaft angenommen werden kann. Gott will alles vollkommen machen. Und die Bibel sagt, dass Er Seine Absichten vollbringt und Ihm niemand wehren kann. *49 Wenn Ihm niemand wehren kann, dann vermag das der Mensch auch nicht. Anscheinend war Hiob der erste, der das erkannt hat: „Ich erkenne, dass du alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer.“ (Hiob 42,2)
Wer gut sein und das Böse meiden will, begnügt sich nicht mit moralischen Vorschriften. Auch die jüdische Torah reicht dabei nicht aus. Man muss sich direkt und unmittelbar an Gott orientieren, der die Verkörperung des Vollkommenen, sowohl in ethischer Hinsicht als auch in Bezug auf Seine Heilsabsicht sein muss. Soweit gelangten die jüdischen Denker noch im ersten Jahrhundert, wie man ihren Schriften entnehmen kann. An Jesus Christus, der diese Verkörperung unter die Menschen gebracht hat, dachten sie vorbei. Jesus Christus ist das Ziel der Torah. Die Torah konnte nicht auf etwas Höheres und Vollkommeneres zielen als Gott selbst. Auch die griechische Philosophie konnte nichts Höheres ersinnen. Jesus Christus ist die Antwort Gottes auf alle offenen Fragen. Mit Seiner Person tut sich eine neue Welt auf, in der alle Fragen beantwortet werden. Das jedenfalls besagen die Aussagen des Neuen Testaments.
Die jüdischen Denker haben richtig erkannt, was auch die Autoren des Neuen Testaments herausgestellt haben, nämlich dass die Hinwendung zu Gott und zu Gottes Wesen zum Heil unbedingt erforderlich sind. Ebenso wie das Gegenstück dazu, die Abkehr vom Bösen. Diese erfolgt jedoch von selbst, wenn man sich Gott zuwendet. Wer sagt, dass er Gottes Werke tut, obwohl er Böses tut, lebt einen Widerspruch. Die Torah ist heilig und gut, sagte auch ein Paulus, aber nur wenn man sie recht gebraucht. Recht gebraucht man sie nur, wenn man mit ihr diesem Gott nähherkommt, der die Gebote der Torah aufgestellt hat, um eine erste Orientierung für die rechte Heilsrichtung zu geben. Wer einen Rührlöffel dem Zweck zuführt, einen Teig umzurühren, führt ihm einen rechten Zweck zu. Das wird ihn aber nicht vor dem Tod retten. Sonderbarer Weise denken viele Menschen, dass sie durch den rechten Gebrauch der Torah gerettet werden können. Die Torah hat keinen Selbstzweck, der ihr dann doch auch wieder nur von Gott gegeben sein müsste. Der Zweck der Schöpfung hängt mit der Gemeinschaft engstens zusammen, die Gott mit Seiner Schöpfung eingehen möchte. Deshalb ist die Sünde tatsächlich nicht einfach nur ein Verstoß gegen eine Gesetzessammlung zu einem besseren Leben, sondern das Anders-wollen wie Gott will und Gott geht es immer um die heilsame Gemeinschaft.
Die Juden, die den Worten ihrer Bibel glaubten, hofften Aufnahme zu finden in das messianische Reich. Sie hatten dazu eine grobe Orientierung mit eben dieser Torah und den übrigen heiligen Schriften. Aber es blieb nur eine Hoffnung, denn eine sichere Heilszusage gab es nicht, die man durch ausreichende Werke bestätigen konnte. *50 Der Grund dafür liegt in der begrenzten Kraft der Torah und des bloß Menschenmöglichen. Es fehlt dem ganzen Alten Testament mit Seinem Bund die persönliche Begegnung mit Christus. An Ihm hängt aber die ganze Schöpfung. Zuerst als JHWH, dann als Jeschua. Zuerst in der Über- und Unterordnung und dann in der vollendlichen Hinzufügung.
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