Nach dem Gespräch nahm ich die Gebrauchsanweisung des Radioweckers zur Hand und programmierte als Weckmusik mein Lieblingsklavierkonzert in A-Dur, KV 488 von Mozart. Tatsächlich hatte ich bisher nie die Zeit dazu gefunden. Für das Bewerbungsschreiben nach Aarau reichte meine Energie nicht mehr, und ich verschob dieses Vorhaben auf den nächsten Tag.
Stattdessen starrte ich zum Fenster hinaus, in die Dunkelheit.
Ich brauchte Zeit, um meine Situation zu überdenken.
Ich gehörte nicht in die Anästhesie, das sah ich mit jedem Tag klarer. Ein Leben zu retten, war wunderbar, daran richtete ich mich auf, aber die anderen anästhesiologischen Routinearbeiten entsprachen absolut nicht dem, was ich mir unter Medizin vorstellte. Ich passte nicht auf diese Arbeitsstelle. Möglich, dass die Vollblut-Anästhesisten mich als Fremdkörper in ihrer Welt wahrnahmen. Echte Grüne erkannten einander intuitiv.
Ich sehnte mich nach der weißen Welt.
Leicht unzufrieden warf ich mich um halb zehn völlig erschöpft ins Bett. Ich spürte, mir fehlte etwas. Vor allem Bewegung. Seit meinem Stellenantritt kam ich nicht mehr dazu, Sport zu treiben. Das muss sich ändern, sagte ich mir und beschloss, morgen wieder einmal zum Fechttraining zu gehen – oder übermorgen.
Ein Tag zum Vergessen; Kulturschock!
‚Der ist ja noch schlimmer als mein Vater‘, dachte Sarah und blieb wie angewurzelt stehen.
Dieser abschätzige Blick sprach Bände; unerträglich waren diese dunklen, zusammengekniffenen Augen, die Sarah von Kopf bis Fuß musterten. Sie spürte vom ersten Moment an, dass der Mann sie nicht ernst nahm. Schutzlos fühlte sie sich und gleichzeitig kam eine Wut in ihr hoch. Sie spürte ihre Anspannung, und das Blut schoss ihr in den Kopf. ‚Hoffentlich sieht er nicht, wie ich erröte‘, dachte sie verwirrt.
Noch nie zuvor hatte sie mit Menschen aus diesem Kulturkreis gesprochen. Unvoreingenommen, mit positiver Einstellung war sie ihm begegnet. Doch bei diesem Ölscheich aus Saudi-Arabien, war sie von Beginn an verunsichert. Erst sprach er gar nichts, und dann schlug ihr diese Ablehnung entgegen. Die Mentalität des Arabers war Sarah völlig fremd und die Situation für sie derart ungewohnt, dass sie nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte.
Schließlich räusperte sich Abdullah Bin Suleiman al-Haqqaui, so hieß der bärtige Ölscheich. In voller Montur, ganz in Weiß und mit Turban stand er im Zimmer und schien nachzudenken. Es verging eine ganze Weile, bis er endlich zu sprechen begann, langsam, aber sehr bestimmt. Er wolle nicht mit einer Frau, sondern mit einem Mann sprechen, erklärte er. Sein Englisch war stark arabisch gefärbt.
Sarah blieb mit vor Erstaunen offenem Mund stehen. Unvorbereitet, wie sie war, brachte sie nicht mehr als ein „ok“ heraus und verließ den Raum unverrichteter Dinge, verärgert darüber, dass es ihr die Stimme verschlagen hatte. Nicht die geringste Spur von Widerspruch oder wenigstens Erstaunen hatte sie äußern können. Mit dem Gefühl des Versagens begab sie sich zum Schwesternzimmer.
Sarah war im letzten Lehrjahr ihrer Ausbildung zur Krankenschwester. Das Praktikum auf der chirurgischen Station F Ost III im Universitätsspital Zürich forderte sie sehr. Nun, gegen Ende eines langen Arbeitstages fühlte sie sich ausgelaugt und müde.
Etwas geknickt erklärte Sarah der Abteilungsschwester Regula die Situation. Vor Schwester Regula, ihrer Vorgesetzten, hatte sie großen Respekt. Regula war sehr streng mit den Lernschwestern. Wer nicht tat, was und wie sie es wünschte, hatte nichts zu lachen. Abteilungsschwester Regula war großgewachsen und hager. Auffällig waren ihre großen Füße. Meist trug sie schwarze Schuhe und betonte damit diesen Körperteil zusätzlich. Ihr kantiges Gesicht hübsch zu nennen, wäre glatt gelogen. Die fehlende körperliche Attraktivität kompensierte sie mit fachlicher Kompetenz. Manchmal übertrieb sie allerdings auch etwas dabei.
Doch sie scheute sich nie, den Ärzten gegenüber ihre Meinung kundzutun. Sie tat dies zuweilen in einem durchaus entschiedenen Tonfall. Dafür bewunderten sie die jungen Krankenschwestern, und Regula war sich dessen natürlich bewusst.
Doch im Falle des kapriziösen Scheichs reagierte sie verständnisvoll. Sie nickte nur, überlegte einen Moment und griff zum Telefonhörer. Schwester Regula fand auch in diesem Fall, wie für die meisten Probleme des Spitalalltags, eine vernünftige Lösung.
„Unser Abteilungsarzt wird gleich kommen und ich bin überzeugt, er wird unseren orientalischen Patienten zur Vernunft bringen“, versicherte sie.
Eine halbe Stunde nach dem Telefonanruf tauchte der Arzt auf, ließ sich die Geschichte erzählen und setzte ein breites Grinsen auf.
„Dann wollen wir doch diesen geheimnisumwitterten Wüstensohn mal ein bisschen bearbeiten.“
Es dauerte nicht lange, da kehrte er voller Stolz wieder zurück.
„Ich habe die Sache erledigt, meine Lieben. Kein Problem mehr. Seine Exzellenz haben gnädigerweise gestattet, dass ihr nun das Essen servieren dürft. Aber nicht vergessen, vorher anklopfen, sonst wird unser Turbanträger sauer. Außer ihm zu dienen dürft ihr leider nicht viel mit ihm machen, aber er ist ja selbständig, und den Verbandwechsel, den machen wir dann morgen im OPS. Im Übrigen ist er ganz umgänglich. Ihr wisst ja, in seinem Land herrschen noch andere Sitten. Da ist der Mann der Pascha, und die Frauen haben zu gehorchen. Paradiesische Zustände! Sind zu beneiden, die da unten.“
Dieser Chirurgieassistenzarzt war bekannt für seine Sprüche. Die einen liebten ihn, die anderen konnten ihn nicht ausstehen, und Sarah mochte ihn überhaupt nicht. Sie verdrehte die Augen. Vor allem dieses unverblümte Machogehabe ging ihr wieder einmal gehörig auf die Nerven. Von dieser Warte aus gesehen war es nur allzu klar, wieso sich der Chirurg und der Ölscheich offensichtlich hervorragend verstanden.
Sarah ihrerseits hatte genug von solchen Männern. Chirurg, Scheich und eigener Vater, alle das gleiche Kaliber, fand sie.
Die Arbeit ging weiter. Wieder musste Sarah in das Zimmer des Scheichs, um das Essen zu bringen. Obwohl sie am liebsten wieder umgekehrt wäre, klopfte sie kräftig an die Türe. Lieber las sie Geschichten aus tausend und einer Nacht, als dass sie selbst in eine solche verwickelt würde. Sie fühlte sich bedrängt, doch tapfer trat sie ein.
Diesmal schaute der Orientale weniger finster, er schien sogar ein wenig zu lächeln. ‚Möglicherweise‘, dachte Sarah, ‚hat das Gespräch unseres Chirurgen doch etwas bewirkt, und der Abteilungsarzt stieg in Sarahs Beliebtheitskurve ganz leicht an.‘
Die Betreuung der anderen Patienten lenkte Sarah umgehend wieder ab.
Im Krankenzimmer FO 80, neben dem Araber war eine ältere Dame mit einem Knochenbruch des linken Oberschenkels stationiert. Die Abklärungen ergaben, dass dieser Knochen von einem bösartigen Tumor befallen war. Die Patientin schien sich der Tragweite nicht bewusst zu sein. Sie sprach über alles Mögliche, vor allem über ihre zwei Katzen, nur nicht über die Krankheit. Sarah staunte und war mit sich selbst nicht ganz zufrieden, da es ihr nicht richtig gelang, die entscheidenden Dinge anzusprechen.
Klassischer Fall von Verdrängung, meinte Abteilungsschwester Regula zu diesem Verhalten beim Mittagsrapport.
Sarah war erleichtert als endlich Feierabend war und sie Fabienne traf. Fabienne arbeitete auf derselben Station. Sie war allerdings bereits seit einigen Monaten diplomierte Krankenschwester. Die beiden kannten sich seit Kindheit, waren in Bülach aufgewachsen und besuchten das gleiche Schulhaus. Fabienne, ein Jahr älter, immer eine Klasse höher als Sarah. Als junge Mädchen waren sie mit Begeisterung zusammen bei den Pfadfindern. Nachdem sie sich in den letzten Jahren etwas seltener sahen, freuten sie sich nun beide sehr, als es möglich wurde, auf der gleichen Station zu arbeiten. Trafen sie sich während der Freizeit, konnten sie meist viel miteinander lachen. Doch an diesem späten Nachmittag waren sie nicht in Stimmung dazu.
Gut eingepackt in ihren warmen Mänteln, spazierten sie am Ufer des Zürichsees entlang. Vom Bürkliplatz aus gingen sie in den Arboretum Park und nahmen auf einer freien Parkbank Platz.
„Weißt du Fabienne, im Moment bin ich völlig durcheinander. Von den Männern habe ich jetzt einfach genug; ich habe