Johanna E. Cosack

Ich darf nichts sagen.


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       Johanna E. Cosack

       Ich darf nichts sagen.

       Roman

      © 2020 Johanna E. Cosack

      Umschlag: Johanna E. Cosack, IStock

      Lektorat: Michael Lohmann

      Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44,

      22359 Hamburg

ISBN
Paperback978-3-347-11630-6
Hardcover978-3-347-11631-3
e-Book978-3-347-11632-0

      Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

      Wer bin ich wirklich?

      Ein Name – der mir gegeben wurde und wieder in Vergessenheit gerät?

      Ein Geist – der von Verlangen nach Besitz und Weisheit getrieben wird?

      Ein Körper - der sich fortpflanzt, altert und stirbt?

      Ich bin ein Nichts im unendlichen Universum.

      Für Sybill Ehrmann-Schneider und Heide Fischer.

       Erstes Kapitel

      Nina weinte lautlos. Sie hatte die Bettdecke über den Kopf gezogen und umklammerte ihren Teddy. Doch selbst der konnte ihre Frage nicht beantworten. Seine Knopfaugen glänzten nur schwarz und vorwurfsvoll.

      Nina fasste sich an die Stelle, wo Papa ihr immer wehgetan hatte, wenn Mama arbeiten war und er seinen nackten, verschwitzten Körper auf ihren presste. »Wir spielen doch nur Bauch-Bauch.« Er keuchte dann und sein Atem roch bitter nach Alkohol. Sie hatte ihn gewähren lassen und ihr Gesicht abgewandt, damit er ihre Tränen nicht sehen konnte. Ihr zarter Körper schmerzte, sie verstand dieses Spiel nicht. Ihr größter, geheimer Wunsch war ein Schlüssel für die Badezimmertür, denn sie wollte endlich keine Angst mehr haben, wenn sie dort allein war.

      Sie hatte Papa lieb und ihm fest versprochen, niemand zu verraten, dass sie manchmal im Badezimmer vor ihm knien musste. Es fühlte sich eklig an und tat ihr weh, aber er hatte sie sicher nicht mehr lieb, wenn sie sich weigerte.

      Eines Tages war Papa weg.

      Sie zermarterte sich ihren kleinen Kopf über die Frage, was an ihrem zwölften Geburtstag geschehen war. Was hatte sie denn angestellt? Sie hatte doch immer alles getan, was er von ihr verlangte.

      Sie hatte Angst, dass Mama ebenfalls fortgehen könnte, und wagte nicht, nach dem Warum oder Wohin zu fragen. Nein, sie durfte ihre Mutter nicht noch mehr belasten. Das leise Wimmern eines Neugeborenen im Nachbarzimmer und der Anblick ihrer übernächtigten Mutter … all das war ihre Schuld. Und wenn sie dem kleinen Wesen frühmorgens sein Fläschchen gab und seinen süßen Babyduft schnupperte, spürte sie, dass sie ihren Bruder brauchte.

      Zusammen waren sie nicht mehr so allein.

      Siebenundzwanzig Jahre, vier Monate und elf Tage nach seinem Verschwinden knabberte Nina lustlos an einem Stück ihrer Lieblingspizza. Das italienische Restaurant war fast immer ausgebucht und die Kollegen in Anbetracht der Enge an den langen Holztischen lieber zu einem Würstchen-Imbiss weitergezogen.

      Aber Nina war der Appetit vergangen, denn sie verabscheute Oliven, die entgegen ihren Wünschen wieder auf ihrer Pizza lagen. Jedes Mal aufs Neue ärgerte sie sich über die Nachlässigkeit des jugendlichen Personals, ihre Bitte zu ignorieren, die Oliven wegzulassen. Jetzt lagen die Früchte wie glänzende schwarze Käfer zwischen den angebissenen Stücken auf ihrem Teller und Nina wollte endlich zurück in die Agentur.

      Während ihre Füße ungeduldig wippten, blickte sie über die anderen Gäste hinweg, um nach der Rechnung zu verlangen. Dabei bemühte sie sich vergeblich, die laute Stimme ihrer Tischnachbarin zu ignorieren, die sich bei ihrer Freundin darüber beschwerte, dass ihr Mann zu häufig allein verreiste.

      Mein Gott, dann lass ihn doch! Nina warf die rot karierte Papierserviette auf den Teller. Die Situation erinnerte sie aber sofort daran, dass Michael vor Kurzem ebenfalls für zwei Tage weggefahren war, ohne ihr einen Grund hierfür zu nennen. Er war noch nie allein verreist! Sie wollte ihn schon längst darauf ansprechen, aber auch diese Frage wurde von der Routine der alltäglichen Konversation überrollt. Seit der Rückkehr schien ihn etwas zu beschäftigen, denn er wirkte wortkarg und nachdenklicher als zuvor. Aber es gab so vieles, das sie ihm schon lange sagen wollte – wenn sie nur endlich könnte.

      Nina ging nicht, sie lief. Und selbst wenn die zierliche Gestalt für ein paar Sekunden innehielt, schien sie immer auf der Flucht vor einer imaginären Bedrohung zu sein. Die scheuen Augen hinter den langen dunkelblonden Ponyfransen vertieften sich nur kurz im direkten Blickkontakt mit anderen Menschen, aber ihrer ruhelosen Aufmerksamkeit entging selten etwas. Sie strahlte eine beängstigende Energie aus, die bei den Kollegen den Eindruck erweckte, Nina sorgte für fast alles. Ihre Bereitschaft mehr – und von anderen ungeliebte – Aufgaben zu übernehmen, war im Laufe der Zeit zu einem festen Bestandteil der Unternehmenskultur der Agentur Springer&König geworden.

      In den modernen Büroräumen der Frankfurter Werbeagentur herrschte wie gewöhnlich jene konzentrierte Lässigkeit, die für den Ideenreichtum der Mitarbeiter und damit für Erfolg sorgte. An manchen Arbeitstagen allerdings verwandelte sich dieser Mikrokosmos in einen Bienenstock, in dem jeder Einzelne seinen Aufgaben nachging, aber in deren Ergebnis doch alle miteinbezogen waren. Eine mitunter chaotische Masse von kreativen Individuen funktionierte so perfekt wie ein Schweizer Uhrwerk.

      Kahle Fenster, die von dem dunklen Parkettboden bis hoch zur weiß gestrichenen Decke reichten, eröffneten den Blick auf die alten Backsteingebäude in der Umgebung. Die warme Nachmittagssonne fiel auf eines der grellbunten Sofas, die überall in den Räumen zum Ausruhen einluden. Zwei Praktikanten hatten es sich darauf bequem gemacht und betrachteten unter Feixen ein Youtube-Video auf dem Laptop.

      Von ihrem Schreibtisch aus beobachtete Nina die beiden. Sie selbst hatte gleich nach dem Studium als Marketing-Assistentin in der Werbeagentur angefangen. Nur dieser Job schien zu ihrer Persönlichkeit zu passen und war es bis heute geblieben.

      Wenige Wochen zuvor war ihre Mutter nach kurzer Krankheit gestorben und Papa … nein … Nina wandte den Blick ab.

      »Hier, Nina-Schatz, hab ich dir mitgebracht.« Ferdi, einer der Junior Designer, stellte einen Kaffeebecher neben Ninas Mac.

      »Hey … alles okay bei dir? Du bist gerade etwas blass um deine hübsche Nasenspitze.« Seine freundlichen braunen Augen sahen auf Nina herab. Er zog die Schultern bis zu den tiefroten Ohren hoch und begrub beide Hände in den Taschen seiner Jeans, so als suche er darin sein überzeugendstes Lächeln.

      »Du, Nina-Schatz, ich habe ein Moodboard für die Wellness-Drink-Kampagne in deine Mailbox gelegt. Könntest du eventuell mal drüberschauen und wir reden später darüber?« Ohne die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen beugte er sich zu ihr »Pierre nervt mich schon den ganzen Tag damit.«

      »Oh je, Ferdi, du bist nicht der Einzige, der von Pierre genervt ist. Ich arbeite gerade an seiner Müller-Präsentation.« Nina hob kurz den Kopf und pustete eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich hab noch die Excel-Tabelle mit der Kostenschätzung und etliche Sachen für vorgestern auf meiner To-do-Liste und eigentlich muss ich heute pünktlich weg. Ich gucke mir dein Moodboard aber gern heute Abend von zu Hause aus an und wir reden morgen früh. Ist das okay?« Sie ärgerte sich ein wenig über ihre Bereitwilligkeit, denn Michael hasste es, wenn sie abends arbeitete.

      Ferdis schlaksige Gestalt richtete sich wieder auf, wobei er von einem Fuß auf den anderen trat, um dann auf Ninas Schreibtischecke Platz zu nehmen.