Johanna E. Cosack

Ich darf nichts sagen.


Скачать книгу

Grunde liebte er alles an ihr, bis – ja, bis auf ihren Bruder.

      Am späten Nachmittag fasste Michael einen Entschluss und griff zu seinem Handy. Er teilte dem Direktor der Frankfurter Musikschule telefonisch mit, dass er vermutlich bis zum Ende des Semesters beziehungsweise seiner Kündigung keine Termine mehr wahrnehmen könne. Nein, er sei nicht krank, beruhigte er den überraschten Leiter. Er müsse sich jedoch länger als geplant auf den Umzug und die neue Anforderung in der Musikakademie vorbereiten. Michael versprach, in den Semesterferien nochmals zur Musikschule zu kommen, um die restlichen Unterlagen und seine persönlichen Gegenstände von dort abzuholen.

      Dann lief er ins Schlafzimmer und packte zwei große Koffer mit seiner Lieblingskleidung. Als er seine Notenblätter in eine Mappe sortierte, hielt Michael inne. Er nahm ein leeres Blatt und fing an zu schreiben. Den Brief legte er auf den vereinsamten Klavierhocker, ergriff die beiden Koffer und seinen Autoschlüssel.

      Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, blickte er nicht zurück.

      Nina war tränenüberströmt aus ihrer Wohnung geflüchtet, auf der Treppe hatten ihre Beine beinahe versagt. Ihr rasendes Herz umklammerte eine entsetzliche Angst vor der ungewissen Zukunft, die durch diese Katastrophe und Michis Entschluss ihren Lauf zu nehmen schien. Die mühsam errichtete Hängebrücke über die Schlucht der Erinnerungen drohte endgültig zu reißen. Jahrelang war Nina darüber gerannt, um beiden Seiten gerecht zu werden. Jetzt hing sie zwischen den geliebten Menschen, doch vermochte sie keinen der Stricke loszulassen, denn sie wollte – nein … sie durfte niemand verlieren. Unten in der Schlucht lagen die Erlebnisse ihrer Kindheit tief vergraben.

      Vor ihrem Lieblingscafé im Öderweg hielt sie an und kaufte zwei Croissants und einen großen Milchkaffee. Trotz der frühen Uhrzeit schienen die Menschen, die aus den U-Bahn-Schächten strömten, schon alle in Eile zu sein, denn die Uhren in dieser Stadt tickten schnell. Eine Tatsache, die Nina seit der Kindheit verinnerlicht hatte.

      Nach der Schule war sie meistens nach Hause gerannt, um Max vom Kindergarten abzuholen und ihm ein Mittagessen zu kochen. Am liebsten aß er Pudding – warmen, cremigen Schokopudding. Manchmal mischte sie Spinat unter den Pudding, da sie gehört hatte, dass Kinder Spinat essen müssten.

      Es war ihr Fluchtinstinkt oder mehr ein verzweifelter Versuch, der Realität davonzulaufen, der Nina veranlasste, an den Main zu fahren. Sie parkte den Porsche am Straßenrand und stieg aus. Jetzt im März war der Wind noch kühl und ein leichter Regen prickelte auf ihrem Gesicht. Unzählige Menschen joggten auf dem breiten Uferweg entlang oder fuhren mit dem Fahrrad zu ihrer Arbeitsstelle. Auf einer Parkbank fütterte ein älterer Herr ein paar Schwäne, die stürzten sich gierig auf das trockene Brot. Der Anblick der Tiere erinnerte Nina sofort wieder an Michi, als der ihr bei einem Spaziergang am Main erklärte, dass Schwanenpaare ein ganzes Leben zusammenblieben. Genauso wie wir, hatte er damals verliebt hinzugefügt.

      Jetzt drohte Michi allein in den Süden zu ziehen. Blind vor Tränen warf Nina den Rest der Croissants zu den Schwänen und eilte zurück zu ihrem Wagen.

      Zwanzig Minuten später hastete sie die beiden Stockwerke in dem alten Fabrikgebäude hoch, in dem die Marketingagentur schon seit ihrer Gründung untergebracht war. Im Empfangsflur begegnete sie Pierre, der mit einer CD in der Hand offenbar in die benachbarte IT-Abteilung unterwegs war.

      »Hey, Nina! Guten Morgen, Liebes, bist du heute aus dem Bett …« Dann stockte er. »Ist irgendwas passiert? Meine Güte, du siehst ja schrecklich aus. Hast du etwa geweint?«

      »Ach, Pierre, guten Morgen! Nein, alles okay.« Nina schüttelte energisch den Kopf und wischte mit dem Ärmel ihres Pullovers über ihr Gesicht. »Nein, das muss wohl der dumme Regen sein. Ähm, Pierre, deine Müller-Präsentation ist so gut wie fertig. Ich lege sie gleich in dein Postfach.«

      Pierre zupfte an seiner Krawatte und blickte stirnrunzelnd auf sie herab. »Das ist super … kannst du mir die Sachen auch noch mal ausdrucken? Der Termin morgen wird wichtig und daher möchte ich ein paar Kommentare hinzufügen, die für mich persönlich sind.« Er griff nach ihrem Arm.

      »Nina, ist wirklich alles okay?«

      »Aber klar … was soll denn schon sein?« Nina zitterte vor Anstrengung am ganzen Körper. Die Erinnerung an den gestrigen Abend trieb ihr erneut Tränen in die Augen. Sie drängte schnell an ihm vorbei, spürte aber, dass Pierres Blick sie verfolgte, als sie auf ihren Schreibtisch zusteuerte.

      Ninas Arbeitsplatz lag im ›Garten‹, einem Teil des Raumes, der aufgrund seiner zahlreichen Grünpflanzen diese Bezeichnung bekommen hatte.

      Immer wieder versuchte sie sich auf das Moodboard vor ihr auf dem Bildschirm zu konzentrieren, aber ihre Gedanken kehrten sofort zu Michi zurück. Wie konnte er sie nur vor eine solche Entscheidung stellen? Warum tat er das? Wollte er wirklich ihr gemeinsames Zuhause verlassen, ihre kleine Familie? Hatten sie sich in der Gemeinschaft nicht alle wohlgefühlt, wie unter einer lieb gewonnenen Decke, unter der jeder seinen Platz hatte und die sie wärmte? Ihr bisheriges Zusammenleben war so selbstverständlich und verlässlich, ohne große Aufregungen. Sie brauchte und liebte ihn über alles, denn er war die einzige Zuflucht in ihrem hektischen Universum und Max hatte eigentlich nie darin gestört.

      Aber warum beabsichtigte Michael, das alles zu ändern? Ninas anfängliche Entrüstung verwandelte sich zunehmend in hilflose Angst, dass er seine Pläne verwirklichen würde. Ein Gefühl aus der Kindheit nahm mehr und mehr Besitz von ihr und eine tiefe Narbe der Erinnerungen drohte aufzuplatzen. Nina riss sich zusammen. Sie musste verhindern, dass alles zusammenstürzte. Er durfte sie nicht allein lassen. Ihr Blick schweifte zu der Palme neben ihrem Schreibtisch, vielleicht waren sie wirklich nur überarbeitet und brauchten Urlaub. Es musste doch einen anderen Ausweg geben.

      Das Klingeln ihres Handys unterbrach die Urlaubsträume.

      »Nima, ich wollte mich nur mal kurz melden. Ich wollte euch nicht stören und bin schon ganz früh in die Werkstatt«, tönte die von Motorgeräuschen begleitete Stimme ihres Bruders. »Du, ich … ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, gestern Abend … es tut mir so leid. Ich wollte das nicht. Der arme Michi, jetzt ist er sicher noch wütender auf mich.«

      »Max! Du sollst mich nicht Nima nen…«

      »Doch! Für mich bist und bleibst du Nina-Mama!«, sagte Max und lachte. »Ich habe vorhin mit einem Freund telefoniert, der auch so ein Klavier hat. Mein Kumpel sagt mir später, wo man am besten so etwas reparieren lassen kann.«

      Nina musste zum ersten Mal an diesem Tag lächeln.

      »Max, es ist ein Flügel und kein Klavier. Ich glaube, Michi will sicher selbst für die Reparatur sorgen. Du weißt, was der Flügel für ihn bedeutet.«

      »Ich werde mich heute Abend bei Michi entschuldigen und die Reparatur bezahle ich ihm auch. Hoffentlich ist er dann nicht mehr so böse auf mich. Schuld war nur mal wieder die blöde Trinkerei, und meine Kumpels waren plötzlich nicht mehr da. Wenn ich die sehe, bekommen die erst mal Prügel.«

      »Nein, das wirst du nicht tun, Max. Diese Freunde lässt du künftig schön in Ruhe. Nur dein Portemonnaie sollten sie dir zurückgeben.«

      »Ja, Nina.« Max’ Stimme wurde kleinlaut. »Ich mache das bestimmt wieder gut – versprochen. Und am Wochenende putze ich dein Auto und …«

      »Alles gut, Kleiner. Wir reden später. Ich muss jetzt wirklich weitermachen.« Nina beendete Max’ Wortschwall, Ferdi stand mit einem fragenden Gesichtsausdruck vor ihrem Schreibtisch.

      In den nächsten Stunden arbeitete sie mit dem aufgeweckten jungen Mann an dem Moodboard für den Wellness-Drink eines großen Getränkeherstellers. Nina war dankbar für seine humorvollen und manchmal doppeldeutigen Kommentare hinsichtlich einzelner Szenen der Collage. Sie lachten und stecken die Köpfe zusammen und kamen immer wieder auf eine noch treffendere Aussage. Erst am frühen Nachmittag erinnerte Ninas knurrender Magen daran, dass es längst Zeit für eine Nahrungsaufnahme war. Sie rief auf Michaels Handy an, um ihm ein Versöhnungs-Essen in seinem Lieblingsrestaurant vorzuschlagen, aber er ging nicht ran. Michi beantwortete nur ungern Anrufe auf dem Handy, daher war dies nichts Ungewöhnliches. Nina überkam das ungute Gefühl, dass