Johanna E. Cosack

Ich darf nichts sagen.


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ein Sandwich zu besorgen.

      Im Treppenhaus hörte sie Pierres Stimme, der ein Stockwerk tiefer leise telefonierte. Erschrocken hielt sie inne, denn seine Worte klangen ungewohnt gefühllos und hart und passten überhaupt nicht zu dem sonst so liebenswürdigen Kollegen. Es war eindeutig Pierres Stimme, aber ein ganz anderer Mensch schien dort zu sprechen.

      »… nein, du Idiot, der Link funktioniert nicht. Ich kann mich nicht anmelden … natürlich über den Torbrowser, glaubst du, ich bin blöd …« Nina lauschte fassungslos, wie Pierres Stimme lauter wurde: »Ich musste jetzt die Bilder auf CD brennen und hab dir eine Kopie geschickt … steht Kleinkram drauf … das Material ist echt gut … nein, wie versprochen zwischen vier und maximal fünfzehn … hör mal, das kostet mich eine Stange Geld, das Material ist auch nicht mehr mit zwanzig Euro zufrieden. Die wollen alle neue Sneakers oder ein Handy …«

      Nina wagte es kaum zu atmen. Vorsichtig schlich sie die Treppe hinab und räusperte sich. Als Pierre sie erblickte, unterbrach er sofort das Gespräch und bedeckte mit der freien Hand den Lautsprecher seines Handys. Ein paar Sekunden standen sie sich gegenüber wie ein altes Ehepaar, das sich gegenseitig mitten in der Nacht vor der geöffneten Kühlschranktür erwischt. Pierres blasses Gesicht wirkte zunächst wie versteinert, dann blitzen seine Augen sie wütend an.

      »Nina, ich führe hier gerade ein sehr privates Telefonat. Du willst sicher nicht zuhören. Oder?«

      Nina nickte ihm verständnislos zu und stürmte vorbei. Draußen auf dem Parkplatz atmete sie tief durch. Was oder besser wer war denn das? Welches Geheimnis steckte nur in dem Kollegen?

      Der Wind hatte die Regenwolken vertrieben und warme Sonnenstrahlen empfingen sie an der belebten Straße, aber Ninas Appetit war vergangen. Selbst die Leute, die ihr auf dem Weg begegneten, wirkten fremd und ihre Blicke vorwurfsvoll. Die Theke des Sandwichladens erschien ihr wie ein Tribunal und die Stimmen um sie herum klangen für sie wie Anklagen.

      Nina bezahlte schnell ihre Flasche Orangensaft und rannte fort. Wie paralysiert lief sie durch eine Umgebung, die nichts mehr mit der Welt gemeinsam hatte, die sie zuvor erlebt hatte, alles schien verändert und in einer seltsamen Weise beängstigend zu sein. Sie sehnte sich danach, endlich einen gemütlichen Abend mit Michi zu verbringen und alles wieder so vorzufinden, wie es war. Der Flügel würde repariert und Michi mit ihr in seinem Lieblingsrestaurant etwas essen und bei einer Flasche Wein über seine Pläne reden. Auch wenn die gestrigen Ereignisse und Michis Ankündigung ihre Probleme deutlich gemacht hatten, so gab es doch gemeinsam eine Lösung dafür. Michi hatte möglicherweise nichts dagegen, wenn Max sie kurz begleitete – nur während der Umzugsphase, für ein paar Wochen. Eine Trennung von seinen trinkfreudigen Kumpels würde ihm sicher helfen. Nina drehte um und eilte zurück ins Büro. Es war die perfekte Möglichkeit Michi in ein paar Wochen zu begleiten, ohne ihren Bruder hier allein zu lassen.

      Die Bildbearbeitung für Pierres Präsentation gestaltete sich zeitaufwendiger erwartet, denn Ninas Perfektion entging kein einziges Detail. Erst zwei Stunden später speicherte sie die gesamte Mappe und legte ein Exemplar in Pierres Mail-Eingang. Als sie einen Ausdruck der umfangreichen Präsentation auf seinen fast leeren Schreibtisch legen wollte, wich sie erschrocken zurück, denn neben seinem Mac lag eine CD mit der Aufschrift Kleinkram. Das Telefongespräch im Treppenhaus schoss ihr in den Kopf. Doch Pierre, der nicht weit entfernt heftig gestikulierend mit dem Agenturleiter Patrick redete, hatte sie schon entdeckt und kam sofort auf sie zu.

      »Nina! Danke, Liebes. Du bist wirklich ein Schatz.« Er verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln, aber seine Miene blieb distanziert und aufmerksam.

      »Ich … ich wollte dir nur die Mappe für die Hartmann-Präsentation geben.« Ninas Stimme bebte, obwohl sie sich bemühte unbeteiligt zu bleiben.

      Pierre schien das zu merken. »Alles okay? Du klingst gerade etwas außer Atem. Vorhin warst du auch ziemlich in Eile?«

      Nina schüttelte den Kopf. »Ja, es sind ein paar Sachen liegen geblieben und ich wollte nur schnell zwischendurch etwas Essbares holen.«

      Sein durchdringender Blick ließ sie nicht los. »So? Also nur schnell etwas zu essen?«

      »Ja, klar.« Nina drehte sich weg. Aber Pierre hielt sie am Arm fest.

      »Du … ähm … Nina … du verstehst schon, dass jeder ein Privatleben hat, über das hier nicht geredet werden sollte? Geht dir doch auch so. Oder?«

      Nina erschauderte. »Ich … ich mach dann mal wieder weiter.« Damit stürmte sie zurück zu ihrem Schreibtisch. Auf dem Weg prallte sie mit Sandra zusammen, die im vierten Semester Kommunikationswissenschaft studierte und ein Praktikum in der Agentur absolvierte.

      »Hey! Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als ob du gerade dem Teufel höchstpersönlich begegnet wärst.«

      Nina blieb erschrocken stehen. »Tut mir leid, Sandra. Ich war wohl gerade etwas abwesend.«

      Sandra rieb sich lächelnd die Schulter. »Na, dafür warst du körperlich ganz schön anwesend. Alles okay?«

      »Ja, schon. Ich brauch vielleicht einfach mal ’ne Pause.«

      »Klingt doch gut. Wollen wir zusammen im ›Spielplatz‹ einen Versöhnungstee trinken?«

      Der ›Spielplatz‹ war eine Art Aufenthaltsbereich für die Mitarbeiter der Agentur mit Loungemöbeln, einem großen amerikanischen Kühlschrank und dem beliebten Tischkicker. Nina schüttelte den Kopf. »Nee, du. Ein anderes Mal sicher gern. Aber jetzt hab ich noch einiges zu erledigen und wollte heute mal nicht zu spät hier raus.«

      Sie eilte zu ihrem Arbeitsplatz zurück und hoffte, dass Pierre keine Änderungswünsche hinsichtlich der Präsentation hatte. Nur keinen Kontakt mehr, keine unangenehmen Fragen und keine fragwürdigen Blicke von ihm.

      Die restlichen Stunden des Nachmittags ging sie ihm aus dem Weg. Nicht noch mehr Probleme und außerdem hatte sie Pierres Privatleben wirklich nicht zu interessieren. Aber irgendetwas stimmte hier nicht.

      Selbst auf dem Nachhauseweg drehten sich ihre Gedanken um den Kollegen. Was war mit Pierre nur los und warum benahm er sich so merkwürdig?

       Drittes Kapitel

      Immer zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte sie die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Nina hatte einen Tisch bei ihrem Lieblingsitaliener reserviert und konnte es kaum erwarten, Michi von ihrer Idee zu überzeugen: für die ersten Wochen doch zusammen mit Max nach Rom zu kommen. Max könnte beim Umzug helfen und sie in der neuen Umgebung entlasten. Dieser Kompromiss schien das Beste und Einfachste für alle zu sein. Es gab keine andere Lösung, denn sie durfte Max keinesfalls zurücklassen. Nein, sie würde ihn niemals allein lassen – so wie Papa.

      Als sie schwungvoll die Tür öffnete, schlug ihr eine ungewohnte Stille entgegen. Der gestrige Abend stand augenblicklich wieder vor ihr und machte ihren vorsichtigen Optimismus sofort zunichte.

      »Michi?« Nina rannte durch die dunkle Wohnung und klopfte sogar leise an Maxis Tür, aber es war niemand da. Hektisch suchte sie nach ihrer Handtasche, die sie in der Eile achtlos auf dem Boden im Flur geworfen hatte. Doch das Display ihres Handys war leer. Wieso hatte Michael ihr keine Nachricht hinterlassen, dass er noch mal weggegangen ist? Hatte er einen Unfall und lag jetzt schwer verletzt im Krankenhaus? Oder hatte er einen Freund getroffen und war mit ihm in eine Bar gegangen?

      Nein, absolut unmöglich. Michi hatte nur einen Freund: seine Musik. Einmal besuchten sie gemeinsam mit Dozentenkollegen ein Konzert eines berühmten Pianisten und waren hinterher in einem Restaurant. Möglicherweise hatte er sich nur mit einem Kollegen festgeredet und die Uhrzeit vergessen.

      Sinnlos.

      Alle möglichen Szenarien tauchten in ihrer Vorstellung auf und die Ungewissheit raubte ihr fast den Atem. Sie presste die Hände an die Schläfen, denn ihr Herz schlug so laut, dass sie das Echo von den Wänden des schmalen Flurs zu hören glaubte. Mit zittrigen Fingern wählte sie Michis Telefonnummer. Er antwortete nicht. Sie lief zurück ins Wohnzimmer und ließ sich auf einen Sessel fallen. Er hatte sicher Noten oder Unterlagen in der Musikschule vergessen und würde gleich nach