an. »Ähm, Nina, ich wollte dir nur sagen, wenn du mir eine Frage stellen möchtest, kannst du das jederzeit tun.«
»Danke, Pierre. Das ist lieb von dir und wenn ich etwas wissen möchte, weiß ich, an wen ich mich dann wenden kann.« Nina drehte ihr Gesicht ab, aber er ließ nicht locker.
»Nina, du hast also auch keine persönlichen Fragen? Du weißt schon, dass die Kollegen gern über jemand reden.«
»Nein, Pierre. Ganz sicher nicht.« Nina kämpfte, um ihre Stimme gelassen klingen zu lassen. Pierre warf ihr einen letzten argwöhnischen Blick zu, dann verschwand er endlich.
Was sollte das denn jetzt sein? Ging es irgendjemand etwas an, wenn sie private Probleme hatte? Pierre wollte definitiv wissen, ob sie sein Telefonat belauscht hatte. Stand es etwa auf ihrer Stirn, dass Michi ausgezogen ist? Ihre Finger hauten auf die Enter-Taste, um die Änderungen zu speichern und das Programm zu beenden. In diesem Moment kam sie sich vor wie ihr kleiner italienischer Espressokocher: randvoll mit Koffein und unter einem enormen Druck.
Nina nahm einen Block gelber Klebezettel, schrieb mit schwarzem Edding jeweils nur ein Wort auf einen Zettel und klebte ihn an ihren Mac. NEIN – immer wieder in dicken Lettern nur dieses eine Wort. Ihre Finger schmerzten und der Filz knickte ab, sie nahm einen neuen Stift. Wie ein unbekanntes Mantra kritzelte sie NEIN auf jeden einzelnen Zettel, bis das Klingeln ihres Handys sie unterbrach.
»Michi! Endlich rufst du an.«
»Nein, leider nicht dein Herzblatt, liebe Nina.«
»Hey, Charly.« Sie stellte den Edding wieder zurück.
»Nina, störe ich dich gerade?« Die sonst schon hohe Stimme der Freundin überschlug sich am Telefon. »Nina, wir müssen uns unbedingt treffen!«
Der Bildschirm ihres Mac gähnte Nina an wie ein großer schwarzer Schlund mit gelben Zähnen. »So, müssen wir das? Was gibt es denn so Dringendes?«
»Mensch, Nina, was ist denn mit dir? Seit wann fragst du, ob ich etwas Dringendes habe?«
»Schon gut, sorry. Ich möchte dich auch gern mal wieder sehen. Bitte entschuldige. Ich bin gerade nicht so gut gelaunt und war möglicherweise etwas abweisend.«
»Klar, verstehe. Du hast ja auch immer viel um die Ohren.« Charlotte machte eine bedeutungsvolle Pause, um noch eine Oktave höher weiterzureden. »Ich muss dir von einem unwiderstehlichen Mann berichten …«
»Okay, Ehemann Nummer drei?« Ninas Füße fingen erneut an zu trommeln.
»Nun sei doch nicht so ironisch, Nina. Kann halt nicht jeder so ein Glück wie du haben. Ich meine, ich habe ihn erst ein paar Mal getroffen, aber wer weiß?«
»Dann lass uns doch nächste Woche Donnerstag an der Alten Oper treffen. Wir können im ›Opéra‹ etwas essen und ein bisschen quatschen. Wäre sieben Uhr okay?«
Charlottes Stimme am Telefon piepste jetzt vorwurfsvoll. »Du weißt doch, dass ich abends keine Kohlehydrate mehr esse.«
»Na, dann isst du dort eben einen Salat, das ist doch kein Problem.«
»Nina, du verlangst wirklich viel von mir. Ich komme nur, weil du meine beste Freundin bist.«
»Ich weiß, liebe Charly, das beruht aber auf Gegenseitigkeit. Bis dann.« Nina beendete kurzerhand das Gespräch. Sie war unfähig noch länger zuzuhören oder an einer weiteren Aufgabe zu arbeiten. Sie wollte nach Hause, zurück in ihre heile Welt … zu Michael. Ihr Puls raste, erschöpft stützte sie den Kopf auf ihre Hände und sah in den schwarzen Schlund, der sie in diesem Augenblick zu verschlingen drohte.
Keine Minute länger konnte sie ihm widerstehen. Nina nahm ihre Jacke und von den erstaunten Blicken der Kollegen verfolgt, flüchtete sie zu ihrem Wagen. Selbst auf dem Nachhauseweg ließ sie die Vorstellung des dunklen Abgrunds nicht los.
Gegenüber von ihrem Haus stand ein schäbig gekleideter Mann am Straßenrand. Er schien zu warten und sprang sofort zur Seite, als sie mit dem Porsche in eine Parklücke direkt vor ihm raste. Es war der Alte, der ihr geholfen hatte, den alkoholisierten Maxi ins Haus zu schaffen.
»Na, junge Frau, heute ham Sie’s aber eilig.« Er grinste und kam auf sie zu.
Nina erschrak und blieb eine Sekunde wie versteinert stehen. Sie wusste nicht, ob ihre Angst vor seinem Anblick oder davor, fast diesen armen Obdachlosen zu überfahren, größer war. Als er näher schlurfte, roch Nina seinen alkoholisierten Atem. »Nein! Bitte entschuldigen Sie«, schleuderte sie ihm entgegen und eilte auf die andere Straßenseite.
»Sie müssen nicht erschrecken vor mir. Ich tu Ihnen nichts. Ich wollte nur …«, rief der Alte hinter ihr her, aber Nina war schon ins Haus gerannt. Mit zitternden Händen schloss sie die Wohnungstür auf.
»Michi?« Aber ihr Ruf blieb unbeantwortet. Ihr Zuhause war einsam und verlassen. Nur ihre Atemgeräusche, und der Lärm der wenigen vorbeifahrenden Autos erinnerte sie daran, dass sie noch lebte.
Sie konnte in dieser Leere nicht bleiben. Nina rannte wieder raus auf die Straße. Der Alte war verschwunden, allein die Bewohner der umliegenden Häuser kehrten von dem Arbeitsalltag zurück. Sie lief stadtauswärts zum Holzhausenpark und setzte sich auf eine freie Bank an dem kleinen Teich vor dem gleichnamigen Herrenhaus. Vom Spielplatz drangen Kinderstimmen an ihr Ohr und hier am Teich fütterte eine Mutter mit ihrem Kleinkind die zahlreichen Enten. Aber alle schienen namenlose Wesen ohne Schatten zu sein. Sie hörte das Rauschen der alten Laubbäume und das aufgeregte Schnattern der vielen Enten, der Wind spielte mit ihren Haaren. Vertraute Bilder aus einer anderen Zeit, einer glücklichen Zeit, die ihr jetzt fremd, fast außerirdisch vorkamen. Nina saß auf der Bank und erblickte ihre Umgebung, ohne sie wirklich zu sehen. Menschen kamen und gingen vorbei. Ein paar Jugendliche ließen sich auf der großen Grünfläche nieder. Bierflaschen wurden herumgereicht und der Dunst einer Shisha verbreitete sich in der Dämmerung über die Wiese.
Viele Stunden später raffte sie sich wieder auf und schlich zurück. Aber die Wohnung war unverändert. Räume, die früher mit Klaviertönen und dem Leben der drei Bewohner erfüllt waren, blieben jetzt still und einsam. Selbst Max war noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Mechanisch ging Nina zu Bett und zog die Decke über den Kopf. Aber sie hatte keine Tränen mehr.
Viertes Kapitel
Als Nina am nächsten Morgen zu ihrem Arbeitsplatz stürmte, flatterten ihr ein paar der gelben Post-its entgegen. Wie Herbstlaub hingen die Zettel in den Zweigen der Pflanze neben ihrem Schreibtisch oder klebten verstreut auf dem braunen Holzfußboden. Sie sammelte die Zettel auf und dachte einen Moment daran, alle wieder zu entfernen, aber dann hielt sie an und las laut deren Aufschrift: »Nein! … Nein?«
Etwa zu der Tatsache, dass ihr Leben trotz den vielen unausgesprochenen Problemen so weitergehen kann wie bisher? Oder Nein! Es durfte nicht sein, dass Michael allein nach Rom ging? Sie hatte die Zettel gestern einem unbewussten Impuls folgend beschriftet. Aber warum mit Nein und nicht Ja oder einem anderen Wort – wer oder was hatte sie zu dieser Aussage veranlasst? Lag in dem Hinweis eine Erkenntnis verborgen? Eine Antwort auf die Fragen, die sie nie gewagt hatte zu stellen, weil sie deren Folgen fürchtete? Hatte sie nicht schon seit der Kindheit zu häufig Ja gesagt oder eher gezwungenermaßen zugestimmt? Wer war sie überhaupt?
Sie schaltete ihren Mac ein. Eine lange Liste ungeöffneter E-Mails forderte sie auf, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie überflog die zahllosen Nachrichten im Posteingang, aber ihr Kopf sträubte sich, die Informationen und Bilder zuzulassen. Sie schloss die Augen und atmete tief.
Entfernt vernahm sie Ferdis Stimme gefolgt von dem lauten Gelächter der beiden Praktikanten. Telefone summten in unterschiedlichen Tonlagen und die unermüdlichen Kaffeemaschinen brummten drohend unter ihrem Druck. Ein paar Texter unterhielten sich leise über die Bedeutung des Wortes ›Relaxmöbel‹. Obwohl ihr eher nach Weglaufen zumute war, griff sie zu einem Block und fing an Illustrationen für den Wellness-Drink zu scribbeln. Schwerpunkt der Werbung sollten nicht die üblichen Merkmale wie Natur oder biologische Inhaltsstoffe sein, sondern der krasse Gegensatz zu den Energy-Drinks.