Michel Abdollahi

Deutschland schafft mich


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das bildest du dir alles ein. Nur weil man dich ein bisschen härter in die Zelle schubst oder deinen Pass auffällig oft hin und her wendet, ist das nicht gleich Rassismus.« So zu denken, ist zwar nicht in Ordnung, aber ich bin es gewohnt. Ich lasse es meist unkommentiert.

      Einmal war die Situation jedoch eine andere, und zwar bei dem Gespräch mit dem jungen Polizisten in Jamel. Ich war dort nicht allein, meinen beiden Kollegen ging diese Situation durch Mark und Bein. Ich habe nur gelacht und erklärt, das sei normal, aber sie fanden das gar nicht normal, aus einem ganz einfachen Grund: Die Polizisten sollten ihnen eigentlich Sicherheit vermitteln. Jetzt, wo einer von ihnen vielleicht, möglicherweise, irgendwie, etwas, ein kleines bisschen rechts sein könnte, hatten sie nicht mehr das Gefühl, beschützt zu werden. Sie waren das erste Mal selbst betroffen. Wie viele von den anderen Polizisten dachten noch so? Der da hinten? Der am nächsten Tag vielleicht auch? Sein Kollege? Ich fand es eher unterhaltsam als beängstigend, weil die Biodeutschen plötzlich in der gleichen Situation waren wie ich und mir nicht mehr nachsagen konnten, dass ich eventuell etwas zu sensibel reagieren würde. Sie hatten beim Anblick der Staatsmacht plötzlich kein gutes Gefühl mehr. Willkommen in meiner Welt.

      Die Reportage »Im Nazidorf« war prägend für mich. Zum einen wegen des Erfolgs, zum anderen, weil sie für mich den persönlichen Beginn eines neuen Deutschlands darstellte. Die Recherchen dazu ließen mich das erste Mal wirklich nachhaltig und tief in diese Welt und ihre Phänomene eintauchen, die wir bis heute nicht wieder losgeworden sind. Seitdem sind viele neue Facetten hinzugekommen. Der Nazi ist zu einem scheinbar freundlichen Nachbarn geworden, der sympathisch daherkommt, ganz weit weg von dem gewalttätigen Bild des Skinheads in den achtziger Jahren. Inzwischen ist die Neue Rechte in der Lage, sich einen bürgerlichen Anstrich zu geben, um dahinter ihre wahre Ideologie zu verstecken. Sie will heute weniger abschreckend wirken, harmlos, nett und besorgt, damit jene, die auch so ticken, aber wenig mit dem nationalsozialistischen Denken, das ihren Kern nach wie vor ausmacht, anfangen können, einen leichteren Zugang dazu finden. Ihr Ziel ist eine »bürgerliche Mehrheit rechts«. Die Politik hat diese Gefahr erst unterschätzt und dann, als sie nicht mehr zu leugnen war, einfach gehofft, das würde schon irgendwann wieder vorbeigehen. Doch es ging nicht vorbei, und heute ist er Realität geworden, der Rechtsruck. Er beschäftigt uns täglich auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen. Dabei wäre es gar nicht so schwer gewesen, diese Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen, aufzunehmen und einzudämmen. Es hätte politischen Mut gebraucht, sich dagegenzustellen. Der Mut wurde aber nicht aufgebracht und das Problem stattdessen belächelt, ignoriert, kleingeredet oder darüber hinweggesehen, bis aus einst sicher aufrichtig besorgten Menschen Radikale wurden.

      In den vier Wochen, die ich in Jamel und Umgebung verbrachte, sprach ich mit vielen Menschen. Menschen, mit denen ich vorher noch nie gesprochen hatte, die mir in meinem Hamburger Alltag nicht wirklich begegneten. Ich unterscheide mich da nicht sonderlich von anderen, auch ich verbringe meine Zeit hauptsächlich in meiner Blase. Diese Blase hatte ich nun verlassen.

      Eines Tages beschlossen wir, in den Nachbarort zu gehen, um dort ein Stimmungsbild der Bevölkerung einzufangen. Im Dorf war nicht viel los. Ich entdeckte einen Friseursalon, von dessen Schaufenster mich das Bild eines Mannes mit einer gut polierten Glatze anlächelte. Wie passend, dachte ich. Die freundliche Friseurin erklärte mir, dass nach dieser »Schnittform« schlicht am häufigsten gefragt wurde, also hatte sie sich dazu entschlossen, auch damit Werbung zu machen. Das war nur konsequent.

      Danach machten wir eine Straßenumfrage. Meine Frage an die Passanten war einfach: »Wie finden Sie eigentlich Ausländer?« Der Satz war eher als unterhaltsamer Einstieg ins Gespräch gedacht denn als ernstgemeinte Frage. Ich wollte mit der Bevölkerung ins Gespräch kommen und mehr über sie erfahren, aber die Menschen in Grevesmühlen und Umgebung beantworteten meine kurze Frage sehr gewissenhaft, als wäre es ein lang gehegtes Bedürfnis, einmal ausführlich die eigene Meinung dazu kundzutun.

      Ein wohlbeleibter Mann stand etwas verloren vor einem Blumenladen, als ich ihn recht keck von der Seite ansprach. Sofort hatte ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er klappte die getönten Gläser seiner Brille souverän nach oben und fing an nachzudenken, ganz intensiv. Weniger über die Antwort, noch aus Verwunderung, auch unsere Kamera spielte keine Rolle, sondern offenbar eher darüber, wie er die Frage so diplomatisch wie möglich beantworten konnte, ohne dabei schlecht rüberzukommen. Eine Meinung hatte er nämlich, aber danach gefragt worden, noch dazu auf offener Straße, war er bisher anscheinend noch nie. Dass ich selbst Ausländer war, fiel ihm nicht auf. Menschen mit Klappbrillen waren mir schon immer etwas suspekt, also dachte ich mir, es lohnt, sich hier etwas mehr Zeit zu nehmen, und wartete geduldig. Er stieg mit einem Satz ein, der inzwischen allbekannt geworden ist. Denken Sie an mein Glücksrad. Niemand hat bisher so schnell wie die Neue Rechte gelernt, ihr menschenverachtendes Weltbild dem aktuellen Sprachgebrauch anzupassen, damit so lange wie möglich verschleiert bleibt, auf welcher Seite das Herz schlägt.

      ***

      Bereits 2014 beleuchtete ich das Phänomen der »Nipster«.[11] Das Kofferwort ist aus der Verschmelzung von »Nazi« und »Hipster« entstanden. In Bad Nenndorf veranstalten die Nazis seit 2006 jedes Jahr am ersten Augustwochenende einen sogenannten »Trauermarsch«, um den »Opfern des alliierten Folterlagers im Wincklerbad« zu gedenken. Bis ins Jahr 2030 hatten sie diesen Marsch dort bereits angemeldet. Tatsächlich sollen die Alliierten im Verhörzentrum Bad Nenndorf Nazifunktionäre gefoltert haben. Ich wollte auf der Demo mit den neuen hippen Nazis ins Gespräch kommen, um zu erfahren, was sie dazu bewegt hatte, Springerstiefel und Glatze gegen Jutebeutel und Hipsterbart zu tauschen, geriet aber schnell an einen aufgebrachten Kameraden, der auf mich zugestürmt kam und mir vorhielt, dass ich überhaupt keinen Respekt vor dem zeigen würde, was hier mal geschehen sei. Nur weil es Nazis gewesen waren, die hier gefoltert wurden, würden »wir« es gutheißen. Um uns herum klatschte man Beifall. »Wir« hatten mit dem Dreh noch gar nicht wirklich angefangen, doch das NDR-Logo reichte anscheinend aus, um unsere Absichten zu beurteilen. Ich drehte mich daraufhin zur Kamera, nahm mein Handmikrofon und sagte: »Niemand hat das Recht, andere zu foltern, auch nicht die Siegermächte einen Nationalsozialisten. Gewalt ist immer abzulehnen. Diese Taten sind zu verurteilen. Michel Abdollahi, Norddeutscher Rundfunk.«

      Danach war eine seltsame Ruhe. Vielleicht bewirkte das etwas in ihm, denn schließlich beantwortete er doch meine Frage nach dem Warum der »Nipster« und erklärte, dass man mit dem martialischen Bild des Neonazis aus den Achtzigern keinen Nachwuchs mehr gewinnen könne. Die Jugend hätte keine Lust mehr auf Stiernacken und Bomberjacken, man wolle mit der Zeit gehen, also habe man sich entschlossen, diese neue Bewegung zu unterstützen, auch wenn er persönlich mit dem neumodischen Quatsch nicht viel anfangen könne.

      Was die Neonazis damals beobachtet hatten, wurde später von der Neuen Rechten adaptiert und perfektioniert. Die haben erkannt, dass Begriffe wie »Rasse« und »Arier« abschreckend wirken, weil sie Erinnerungen an finstere Zeiten der deutschen Geschichte hervorrufen. Deswegen spricht die Neue Rechte auch nicht mehr von Rasse, sondern von Kultur. Es gelte, die »deutsche Kultur zu bewahren«,[12] nicht, die »deutsche Rasse zu schützen«. Man spricht auch nicht mehr von Ariern, sondern von »Ethnodeutschen«. Als Frauke Petry forderte, das Wort »völkisch« wieder positiv zu besetzen,[13] war das nichts anderes als ein notdürftig verklausuliertes Plädoyer dafür, Nazivokabular wieder zu benutzen, gepaart mit der Hoffnung, dadurch eine Normalisierung dieser Begriffe und ihrer Bedeutung herbeizuführen.

      Das war 2016. Heute sind Begriffe wie »Heimatschutz«, »konservative Revolution« und »nationale Identität« im Sprachgebrauch bereits so verfestigt, dass der Kern ihrer Bedeutung völlig in den Hintergrund gerückt ist. Die wenigsten rufen heute noch »Deutschland den Deutschen!«, dabei meinen sie mit der Forderung nach der »Wahrung der deutschen Kultur und Identität« nichts anderes. Besonders kompliziert wurde es mit dem »Nafri«, der internen Arbeitsbezeichnung der nordrhein-westfälischen Polizei für Nordafrikaner oder nordafrikanische Intensivtäter. Nur ist der Begriff dadurch, dass er eine interne Arbeitsbezeichnung der Polizei ist, nicht weniger entmenschlichend, er ist ein Paradebeispiel für biologistischen Rassismus. Jan Böhmermann fragte am Neujahrstag 2017 deshalb bei Twitter berechtigt: »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Nafri und Neger?«

      Eine Antwort bekam er nicht, denn Nafri wirkte im