liegen über diesem Raum. Mit schnellen Schritten bin ich bei der Tür. Auf dem Flur pralle ich fast mit Mum zusammen.
„Greta, wo warst du denn?“
„Ich habe es da unten nicht ausgehalten. Ich …“
„Du hast hier nichts zu suchen. Komm mit.“ Mum fasst mich am Arm und zieht mich hinter sich her.
Auf der Treppe drehe ich mich noch einmal um und werfe einen letzten Blick zurück. So leer wie der Flur fühlt sich auch mein Herz an. Es muss an diesem Ort liegen.
Zum Glück haben sich die Trauergäste inzwischen verabschiedet. Doch die Ruhe, die nun herrscht, wirkt keinesfalls friedlich. Mum verschwindet zielstrebig und mit aufeinandergepressten Lippen in der Küche. Evelyn hat eine Hausangestellte, die sich um alles kümmert. Das scheint Mum nicht aufhalten zu können. Kaum ist sie außer Sichtweite höre ich das Geschirr klappern.
Unschlüssig stehe ich im Wohnzimmer. Erneut frage ich mich, welchen Grund es für Mums Verhalten gibt. Sie scheint an jedem Ort der Welt lieber sein zu wollen als hier. Hat mit Evelyn kaum drei Worte gewechselt. Ihr Gesicht spricht Bände. Hasst sie ihre Schwiegereltern so sehr? Oder schmerzt sie die Erinnerung auch nach so langer Zeit noch derart, dass sie es kaum erträgt, Evelyn zu sehen?
Ich bereue nicht, hergekommen zu sein, aber ich sehne mich nach unserem Zuhause in Berlin. Nach meinem Zimmer, meinem Bett. Wie gern würde ich jetzt mit meiner besten Freundin Lara vor dem Fernseher sitzen, auf Netflix die Wiederholung einer Folge Vampire Diaries schauen und anschließend von Ian Somerhalder träumen. Um zu träumen muss ich nicht zwangsläufig das Land verlassen, trotzdem fehlt mir die Begeisterung. Auch das Wetter trägt zur Aufheiterung nicht bei.
Kurz überlege ich, die Gegend etwas zu erkunden, um der angespannten Stimmung im Haus zu entkommen, aber es ist Februar und ganz New York liegt unter einer dicken weißen Schneedecke. Seit wir gestern hier angekommen sind, hat es nicht aufgehört zu schneien. Die Räumfahrzeuge sind unermüdlich im Einsatz. Hinzu kommt ein starker Wind, der kalte Ostluft durch die Straßen bläst.
Obwohl ich selbst aus einer Großstadt komme, ist hier alles anders. Die Vorstellung, dies hätte mein Zuhause sein können, wäre dieser schreckliche Unfall nicht geschehen, ist eigenartig. Wie wäre mein bisheriges Leben verlaufen? Wäre ich dieselbe Person, die ich jetzt bin? Der Unfall hat unsere Familie zerstört. Ich durfte nicht erleben, wie es sich anfühlt, mit einem Dad aufzuwachsen. Wurde zum Einzelkind, statt einen großen Bruder an meiner Seite zu haben.
Plötzlich werde ich aus meinen trüben Gedanken gerissen.
„Da bist du ja.“ Evelyn tritt zu mir ans Fenster. „Setz dich doch einen Moment zu mir.“
Während sie zu der grauen Couch hinübergeht, betrachte ich sie. Sie wirkt erschöpft. Die vergangenen Tage und Stunden haben scheinbar an ihr gezehrt. Trotzdem strahlt sie Stärke aus. Als unsere Blicke sich treffen, liegt eine Bitte darin.
Ich wähle den Sessel ihr gegenüber und mustere Evelyn neugierig. Ihre blauen Augen sind aufmerksam, zeugen von Intelligenz. Wie ein Schwiegermonster sieht sie nicht aus. Über ihr Gesicht huscht ein flüchtiges Lächeln.
„Ich frage mich, was Maria über uns erzählt hat?“ Sie klingt gekränkt und doch ein wenig amüsiert.
„Gar nichts“, gebe ich ehrlich zu.
„Das wundert mich nicht. Sie hat damals einen Schlussstrich gezogen und nie zurückgeblickt.“
„Wieso?“
„Wie groß du in der Zeit geworden bist. Und so hübsch. Adam wäre stolz auf dich.“
Hat sie mich nicht gehört? Oder geht sie absichtlich nicht auf meine Frage ein? „Mochtet ihr euch früher, Mum und du?“, versuche ich es noch einmal.
„Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die der Mensch nicht immer begreift. Unsere Familie …“
„Evelyn!“ Die strenge Stimme von Mum setzt unserer Unterhaltung ein jähes Ende. „Komm Greta, wir gehen.“
„Mum.“ Ich sehe sie erschrocken an. Seit wir in New York angekommen sind, benimmt sie sich sonderbar. Sie ist kaum wiederzuerkennen.
„Keine Widerrede. Hol deine Jacke.“ Wie ein Pitbull steht sie zwischen mir und Evelyn. Jederzeit bereit, mich von ihr wegzuzerren.
„Was zum Teufel hast du für ein Problem?“, platzt es aus mir heraus.
„Wie redest du mit mir?“
„Was erwartest du denn? Du redest so gut wie nie über Dad und Aaron. Die Existenz meiner Großeltern wird totgeschwiegen. Die Reise ist für dich eine Art Höllentrip. Ich hatte gehofft, in den drei Tagen, die mir hier vergönnt sind, ein paar Antworten zu finden. Aber du verhältst dich wie eine Furie. Ich darf nicht durch das Haus laufen. Ich darf mich nicht unterhalten. Fehlt nur noch, dass du mir das Atmen verbietest!“ Mein Herz klopft aufgebracht.
Mums Augen funkeln zornig. Doch dann verändert sich ihr Blick. Wie aus einem angestochenen Ballon scheint die Wut aus ihr zu entweichen. „Du kannst das nicht verstehen.“
„Dann hilf mir dabei.“
Ich warte, doch sie bleibt stumm. Stattdessen sieht sie zu Evelyn und ihr Blick verhärtet sich erneut.
„Du versuchst es ja gar nicht erst“, presse ich enttäuscht hervor.
Aber bitte, stur sein kann ich auch. Ohne ein weiteres Wort rausche ich an Mum vorbei, schnappe mir meine Jacke und öffne die Haustür.
„Greta.“
„Lass ihr einen Moment“, höre ich Evelyn noch sagen, bevor ich die Tür hinter mir zuknalle.
Blind vor Tränen stapfe ich den Gehweg entlang. Wohin ist mir egal. Hauptsache weg von diesem fremden Haus, dieser erdrückenden Stille und dieser ständigen, die Luft verpestenden Aggressivität.
Kurze Zeit später verändert sich das Straßenbild, graue Betonriesen werden zu ausladenden Eichen. Ich laufe weiter, bis der Verkehrslärm nur noch dumpf an mich herandringt. Dann erst bleibe ich stehen und atme tief durch. Die frostige Luft füllt meine Lungen. Der Wind pfeift laut durch das Geäst der Bäume. Ich setze mich wieder in Bewegung. Der Schnee knirscht unter meinen Füßen. Plötzlich beginne ich zu lachen, die ganze Situation ist einfach zu verrückt. Ich spüre feuchte Kälte auf meinen Wangen. Erst da merke ich, dass aus meinem Lachen ein Weinen geworden ist. Ich ringe nach Atem, der in weißen Wölkchen in die Luft steigt und blinzele durch den Tränenschleier. Der Aufenthalt hier bringt mich völlig durcheinander.
Langsam beruhige ich mich wieder und schlage den Weg Richtung Central Park ein. Beschämt schaue ich mich nach Beobachtern meines kleinen Anfalls um. Dann schüttele ich den Kopf. Kann mir doch egal sein. Selbst wenn, was macht es für einen Unterschied? Doch plötzlich wird mir die fremde Gegend unheimlich. Viel zu lange bin ich ziellos in den Park hineingelaufen und inzwischen ist es dunkel geworden. Der Park ist menschenleer. Als ich plötzlich Schritte hinter mir höre, legt sich Angst wie eine schwere Decke über meinen Körper.
Intuitiv schaue ich mich um. Nicht weit von mir entfernt ist ein Mann stehengeblieben, der jetzt in meine Richtung starrt. Ich versuche, mich nicht verrückt zu machen. Alles nur Zufall. Aber der Typ rührt sich nicht von der Stelle. Er trägt einen langen schwarzen Mantel und starrt mich weiter unverwandt an.
Meine Haut beginnt zu kribbeln. Ich bin allein, mitten im Central Park. Entschlossen gehe ich in die entgegengesetzte Richtung. Ein Blick über die Schulter treibt meinen Puls in die Höhe. Er folgt mir. Oder bilde ich mir das nur ein? Nein, es besteht kein Zweifel. Mein Herz pocht bis zum Hals, während das Blut in den Ohren rauscht. Meine Schritte werden schneller. Verdammt, ich habe überhaupt nicht bemerkt, wie weit ich in den Park hineingelaufen bin. Unterwegs muss ich den Hauptweg verlassen haben. Überall ist Schnee. Zusätzlich peitscht der Wind kleine Eiskristalle durch die Luft, die wie feine Nadeln mein Gesicht treffen.
Dieser Kerl ist noch immer hinter mir. Der Abstand ist kleiner geworden. Ich wische mir über die Augen, um besser sehen zu können.