Thorsten Klein

Omnipotens


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wollte. „Die Genossin Al Kahira und ihr Freund, der Genosse Arx, haben mich gebeten, das hier abzugeben. Es ist jenes deutsche Konfekt, dass Wladimir Iljitsch im Exil so lieben gelernt hat.“

      Der Posten nickte nur und öffnete die Tür.

      Sehr zu Wissarews Missfallen, blieb er in der offenen Tür stehen und ließ ihn nicht aus den Augen. Das erschwerte dessen Mission. Also er ließ sich erst einmal Zeit, den schlafenden Bolschoi zu betrachten. Dabei nestelte er, dem Posten den Rücken zukehrend, ein kleines Fläschchen aus seiner Brusttasche.

      Das hatte er vom Oberst Boschestwo-Woyn. Der verstand Wissarews Pläne und Ziele vollständig. Da sie den eigenen sehr entgegen kamen, hatte er Hilfe versprochen und gehalten. Auch in Form dieses Fläschchens. Er behauptete, es enthalte ein Gift, welches hier niemand nachweisen könne und das einen natürlichen Tod des Genossen Bolschoi hervorrufen würde.

      Wissarew hoffte, der Oberst hätte recht damit. Wie aus Versehen stieß er mit dem Ellbogen einen Becher von Bolschois Nachttisch und füllte dann, als sich der Posten nach dem Becher bückte, das Gift in Bolschois offene Wasserkaraffe.

      Was Wissarew nicht bemerkte, der Posten beobachtete ihn trotzdem, sagte aber nichts dazu.

      Vielleicht glaubte er auch, der Genosse gieße ein stärkendes Medikament in das Trinkwasser Bolschois und tue das heimlich, um nicht den Ruhm seiner Heilung für sich beanspruchen zu müssen. Während er ihn wieder zurück zur Tür führte, scannte er die Molekularstruktur des heimlich gegebenen Mittels.

      Alles lief richtig. Es war ein Hämostatikum. Ein „Blutverdicker“. Mit einem Wirkstoff, den es auf Psyche in keiner Apotheke gab.

      Ort: Psyche, Wedding, bei der Familie Ether

      Es war eine jener Küchen, wie es sie zu jener Zeit in ganz Deutschland unzählige gab. Luitpold Ether konnte sich nicht daran erinnern, jemals so oft in einem anderen Zimmer der elterlichen Wohnung gewesen zu sein. Ihr Leben fand immer in der Küche statt. Auch heute.

      „Kann ich euch denn nicht umstimmen?“, fragte seine Mutter gerade. Ihrem Tonfall war anzumerken, sie hatte keine Hoffnung mehr, es könne ihr gelingen.

      Denn die Beschlüsse ihrer beiden Jungs standen fest.

      „Wir sind doch schon groß, Mutter. Wir haben den Krieg überlebt und wollen nun auf eigenen Füßen stehen“, antwortete Heinrich für beide zum wiederholten Mal. Er war der jüngere der beiden Zwillinge, stand aber der Mutter näher, als sein älterer Bruder.

      „Ich finde es ja gut, dass du studieren willst. Aber Landwirtschaft? Und dann auch noch in München? In diesem Nest? Warum bleibst du nicht in Wedding?“

      „Um hier Lehrer zu werden wie mein Vater? Ich habe nicht vor, mich mein ganzes Leben mit den Kindern anderer Leute rumzuärgern.“

      „Nein, er ärgert sich lieber mit dem Viehzeug anderer Leute rum“, spottete sein Bruder.

      „Das ist immer noch besser, als Schauspieler werden zu wollen.“ Die Mutter konnte mit dem Berufswunsch ihres Ältesten überhaupt nichts anfangen. Theaterschauspieler kannte sie genauso wenig, wie Filmschauspieler. Es konnte kein seriöser Beruf sein, denn sie hatte noch nie davon gehört.

      „Luitpold, du hast doch kein Abitur gemacht, um dann mit irgendwelchem Tingeltangel durch die Gegend zu ziehen“, versuchte sie ihren Sohn umzustimmen. Heinrich hatte ihr von den Wanderbühnen erzählt, als ihn seine Mutter fragte, was Schauspieler seien. Um seinem Bruder in den Rücken zu fallen. Dessen ewigen Spott musste man ihm ja auch mal heimzahlen.

      „Ich ziehe nicht mit Tingeltangel durch die Welt, ich studiere ebenfalls. Schauspiel ist ein seriöser Beruf, den man erlernen kann. Die Berliner Fachhochschule für Musik und darstellende Kunst ist weltberühmt und es ist eine Ehre, dass sie mich angenommen haben. Zwanzig Leute nehmen die unter hunderten von Bewerbern. Verstehst du, was das heißt, Mutter?“

      Luitpold wollte nicht nur diese Chance, sondern vor allem die Anonymität dieser Großstadt, um er selbst zu sein. Berlin war viel liberaler als Wedding. Er wusste, sein Bruder wollte nicht nur wegen des Studiums nach München. Auch wegen der Kommunisten, die man dort bekämpfen konnte. Aber das alles würde seine Mutter nicht verstehen.

      Die verstand vor allem, dass ihre Söhne aus dem Haus gingen. Das musste ja irgendwann so kommen. Aber doch nicht so bald. Vielleicht ließ es sich aufschieben? „Wartet wenigstens noch, bis euer Vater vom Unterricht zurück ist, damit er euch auch verabschieden kann. Werdet ihr uns schreiben?“

      „Haben wir von der Front nicht auch Briefe geschickt, Mutter? Natürlich werden wir schreiben“, tröstete Heinrich.

      „Wenn wir die Zeit dazu haben“, ergänzte sein Bruder.

      „Du wirst wenig Zeit dafür haben. Diese Schauspielerinnen sind alle wunderschön und sehr willig, habe ich gehört“, unterbrach Heinrich seinen Bruder, wohl wissend, der wollte von denen nichts.

      Der stichelte zurück: „Deine Bauerndirnen sind auch nicht ohne. Sie haben Ahnung von der Fortpflanzung und an allen ist ausreichend dran.“

      Das ging eine Weile noch so und Frau Ether ließ ihre Söhne machen. Auch wenn ihr der Inhalt der Sticheleien nicht gefiel. Die waren viel zu ordinär. Aber so waren junge Männer halt. Sie hatten nur Mädchen im Kopf.

      Ort: Psyche, Moskau, Kreml

      Der Genosse Wissarew hatte nur eines im Kopf: Die Gesundheit des Genossen Bolschoi. Eigentlich eher dessen baldigen Tod.

      Nachdem er erfolgreich das Medikament in dessen Karaffe gekippt hatte, wartete er auf die Bescherung. Wie ein Kind, das hofft, sein sehnlichster Weihnachtswunsch möge in Erfüllung gehen. Es irritierte ihn deshalb sehr, dass ein paar handfeste Genossen vom Komitee zur Bekämpfung der Konterrevolution, Spekulation und Sabotage (Tscheka) ihn in den Kreml baten, um den Genossen Bolschoi zu besuchen.

      Lebte Bolschoi etwa noch und war in der Lage, Audienzen zu gewähren? Oder Haftbefehle vollstrecken zu lassen? Hatte der Wachposten etwas mitbekommen und das weltpolitisch so wichtige Medikament aus Bolschois Trinkwasser entfernt? Ging der Genosse Wissarew zu seiner Hinrichtung, statt zu seiner Erhöhung auf den Gipfel der Macht? Es gab Einiges, worüber er grübeln konnte, während er mit seiner Eskorte den Kreml aufsuchte.

      Bolschoi lebte. Er lag in seinem Schlafzimmer. Sah aber furchtbar krank aus. Soweit also alles in Ordnung. Nur mühsam konnte er den Genossen Wissarew zu sich heranwinken. Auch das war ein gutes Zeichen.

      Weniger gut war, dass Alexandra und Michael bereits im Vorzimmer saßen. Die waren also vor ihm beim Genossen Bolschoi gewesen. Was hatten die ausgeheckt? Wissarew ging ans Krankenbett des Genossen Wladimir Iljitsch und der Posten schloss die Tür des Schlafzimmers, so dass die beiden Revolutionäre allein waren.

      „Alexandra hat gesagt, ich hätte nur noch ein paar Minuten, die ich sprechen kann. Eigentlich wäre ich bereits tot, hat sie behauptet. Aber sie konnte mir eine Medizin geben, die mich noch so lange am Leben lässt, bis ich alles Wichtige geregelt habe. Mit Michael habe ich bereits gesprochen. Du wirst der sein, der meine letzten Worte hört.“

      „Es ist immer der Nachfolger, der dieses Privileg hat“, hoffte Wissarew.

      Bolschoi lächelte. Sehr mühsam, aber er lächelte. „Beim Zaren mag das so gewesen sein. Du weißt das besser, du warst bei Hofe, ich nicht.“

      „Dann werde ich nicht dein Nachfolger?“

      „Die Partei wird eine kollektive Führungsspitze haben, bei der der Generalsekretär natürlich eine wichtige Rolle spielen wird. Aber er ist nur einer von mehreren Führern.“

      „War das Michaels Idee?“, fragte Wissarew.

      „Nein, es war die von Alexandra. Das Kollektiv nennt sich Politbüro. Es wird alle wichtigen Entscheidungen treffen. Kollektive Entscheidungen sind besser, als die von Einzelpersonen, hat sie vorgeschlagen. Das leuchtet sogar mir ein und du wirst es auch verstehen“, erklärte Bolschoi.

      Wissarew würde also weiterhin Macht in diesem Land ausüben können. Wenn auch nicht