Thorsten Klein

Omnipotens


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      Er würde kein Jahr mehr leben, erkannte sie. Denn er hatte Arterienverkalkung. Überall. Aber zuerst würden die Blutgefäße im Gehirn ihre Durchlassfähigkeit verlieren. Das sah sie ebenfalls.

      Arterienverkalkung, dachte Alexandra. Was für altmodische Krankheiten die Menschen auf Psyche hatten. Warum verhinderten sie diese Krankheiten nicht? Die Prophylaxe dagegen war so einfach. Aber Bolschoi wusste sicherlich nicht einmal, wie es um ihn stand. Geschweige denn, dass er in der Lage gewesen wäre, die ihm drohenden Schlaganfälle zu verhindern.

      Am Leben erhalten konnte sie ihn nicht mehr. Aber etwas Anderes konnte sie für ihn tun. Eine Hilfe, die er verstehen und annehmen würde. „Du hast die Revolverkugel, die dich im letzten Jahr getroffen hat, immer noch in dir. Spürst du keine Schmerzen?“

      „Ob ich Schmerzen spüre?“, fragte er mit einem krächzenden Lachen. „Ich weiß nicht, wo ich in meinem Körper keine Schmerzen spüre.“

      „Lass dir die Revolverkugel entfernen. Sie enthält Blei und das ist giftig. Es frisst dich langsam von Innen auf.“

      „Ich habe schon darum gebeten, aber unsere Ärzte weigern sich. Sie sagten, es sei zu gefährlich. Ich weiß, sie haben nur Angst, mein Nachfolger könne sie umbringen, wenn sie versagen. Wenn Wissarew mein Nachfolger wird, haben sie mit ihrer Angst höchstwahrscheinlich recht.“

      „Ich kann die Revolverkugel entfernen. Ich bin Ärztin und Wissarew kann mich nicht umbringen.“

      „Du bist auch Ärztin?“ Bolschoi musterte sie. Nicht ungläubig, auch nicht überrascht. Eher so, als habe er erwartet, sie trage noch mehr Qualitäten in sich, als die ihm bekannten.

      Alexandra spürte diese Bewunderung. „Kann ja sein, deine Vorwürfe sind berechtigt und ich bin eine schlechte Revolutionärin. Als Ärztin bin ich besser. Helfen kann und werde ich dir. Von meiner Seite hast du keine Weltverbesserungen mehr zu erwarten. Nur noch die Heilung der Menschen. Hätte ich mich schon eher auf meine heilenden Stärken beschränkt, wäre mein Mann vielleicht nicht gestorben.“

      Ort: Psyche, Bad Döttelbach, Schwarzwald

      Der Herr Minister sollte sterben. In dieser Minute noch. Es war beschlossen. Alle Vorbereitungen dafür beendet. Nichts hielt sie mehr auf.

      Sie hatten sich im Wald verteilt. So, wie sie es einst für den Krieg gelernt hatten. Deutsche Sturmtruppen waren bis zum Ende des Krieges in der Lage gewesen, Schrecken unter ihren Feinden zu verbreiten. Nach dem Krieg waren sie immer noch dazu in der Lage. Denn Deutschland hatte immer noch Feinde. Diesmal waren es deutsche Feinde.

      Der sich das gerade einredete, um seine Nervosität zu überspielen, war ein Hauptmann des Deutschen Reichsheeres. Mit diesem Dienstgrad ließ er sich immer anreden. Bei militärischen Titeln wusste man wenigstens, woran man war. In dieser neuen Zeit nach dem Krieg wusste man sonst nie, woran man war.

      Er sah zu seinen Kameraden. Die waren so verteilt, dass man die Zielperson ins Sperrfeuer nehmen konnte. Keine Chance also, zu entwischen. Die Kameraden nickten ihm zu. Nach dieser Zustimmung sah er über sein Visier und wartete. Bis die Zielperson auftauchte.

      In Begleitung. Wie geplant.

      Pech für die Begleitperson. Auch sie würde sterben.

      Darum hatte ihn sein Freund, Oberst von Krüger, gebeten. Lächelnd, weil alles so gut lief, sah der Hauptmann weiter durch das Dioptervisier.

      Ort: Psyche, Berlin, Büro des Reichskanzlers

      Herr Brandenburger sah immer noch aus dem Fenster. So konnte man einfach besser nachdenken.

      Seinem Gesprächspartner fehlte dazu die Geduld.

      „Sie müssen endlich eine Entscheidung treffen, Herr Reichskanzler, und die werden Sie kaum da draußen finden“, sagte Herr von Sälzer. „Die Entscheidung zwischen den Kommunisten und uns kann doch nicht so schwer sein.“

      Herr Brandenburger mochte es, als Reichskanzler angesprochen zu werden. Aber er mochte nicht, dass man ihn unter Druck setzte. Erstrecht nicht, wenn dieser Druck durch einen ehemaligen Offizier und Diplomaten ausgeübt wurde.

      „Ich persönlich habe eine sehr feste Meinung zum Kommunismus, Herr von Sälzer“, antwortete er deshalb. „Demokratie heißt aber auch, Koalitionen einzugehen. In Sachsen funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den Sozialdemokraten und den Spinnern von der Linken gut. Vielleicht auch, weil sie funktionieren muss. Aber sie funktioniert. Selbst die sonst so stockkonservativen Bayern haben eine Räterepublik nach russischem Vorbild ausgerufen. Regiert von Linken und Sozialdemokraten. Warum sollte eine solche Regierung in Berlin nicht ebenfalls funktionieren?“

      Es war keine Frage, es war eine Provokation. Herr von Sälzer empfand das auch so. Herr Brandenburger konnte es im spiegelnden Fensterglas deutlich erkennen. Auch die Mühe, die von Sälzer hatte, eine ruhige Antwort zu geben. „Wollen Sie dieses Land etwa den Kommunisten überlassen? Sie? Als Sozialdemokrat? Die werden Sie kaum an der Macht lassen. Wir schon.“

      Der Reichskanzler drehte sich vom Fenster weg und sagte mit einer Verbindlichkeit, die er nicht fühlte: „Wenn wir in der Regierung zusammengehen, Herr von Sälzer, müssen auch sozialdemokratische Punkte im Regierungsprogramm erkennbar sein. Sehr viele, denn wir bilden die größere Fraktion. Es ist nicht sozial und erst recht nicht demokratisch“, fuhr er fort, „auf Kommunisten zu schießen. Nicht, wenn man miteinander in dem einen oder anderen Bundesland regiert. Das werden Sie doch einsehen.“

      Herr von Sälzer sah das nicht ein, schwieg aber dazu.

      „Ebenso werden wir nicht umstoßen, was die Herren Stinnes und Legien beschlossen haben“, bekräftigte Brandenburger. „Der Achtstundentag ist nicht nur eine Forderung der Kommunisten. Wir werden das erste Land sein, das ihn einführt. Da wir damit in Deutschland die russische Räterepublik verhindern, wünsche ich darüber keine Diskussionen.“

      Mit einem Kaiser an der Spitze gäbe es solche Eskapaden nicht, dachte von Sälzer. Noch war Kaiser Wilhelm im Exil, aber er würde bald wiederkommen. Auch durch die Hilfe von seiner Politik. Bis dahin war Geduld erforderlich. Und Diplomatie. Von Sälzer war einst Botschafter in Washington, der Hauptstadt Hinterindiens. Brandenburger würde schon merken, was man auf einem solchen Posten alles lernt.

      „Unsere Partei fordert die Auflösung aller Strukturen, die aus den Revolutionstagen übrig sind“, stellte er erst einmal seine Forderungen. „Diese Räterepubliken gehören dazu. Also weg mit ihnen. Wir verlangen dabei nicht, auf Deutsche zu schießen. Nur, wenn das unbedingt notwendig ist. In diesem Land muss wieder Ordnung herrschen. Sind wir uns wenigstens darin einig? Wir werden Gesetze erlassen, die diese Leute in die Illegalität treiben.“

      Herr von Sälzers Selbstgefälligkeit, mit der er diese Worte sprach, würde auskühlen, wusste der Reichskanzler. Der hatte vielleicht Ideen … Gesetze erlassen? In einer Demokratie? So etwas konnte dauern. So viel hatte Brandenburger bereits gelernt. Auch der Parteivorsitzende der konservativen Zentrumspartei würde das lernen.

      „Wenn Sie einverstanden sind, dass wir bis dahin friedlich regieren, Herr General von Sälzer, bin ich mit einer Koalition ihrer Partei mit der SPD einverstanden.“

      Herr Brandenburger reichte seinem Kollegen die Hand. Der nahm sie und schüttelte sie mit einer Kraft und Heftigkeit, die den ehemaligen General verriet. „Einverstanden, Herr Reichskanzler. Erst einmal schießen wir nicht auf die Kommunisten.“

      „Wir lassen auf niemanden mehr schießen, Herr General. Der Krieg ist vorbei und diese Gewalt, welche durch die Freischaren ausgeübt wird, muss auf die einzige Macht übergehen, die in Deutschland Gewalt ausüben darf: Die deutsche Regierung. Wir sind die deutsche Regierung, Herr General. Unser einziges Regierungsprogramm sollte sein, dass wieder Friede, Ruhe und Ordnung herrscht.“

      Ort: Psyche, Bad Döttelbach, Schwarzwald

      Es war friedlich im Schwarzwald. Ruhig sowieso. Die beiden Herren gingen plaudernd einen Waldweg entlang.

      Der Minister gestand sich ein, die kleine Wanderung war eine wunderbare Idee. Selten hatte er sich so