Thorsten Klein

Omnipotens


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die damit in Verbindung stehenden politischen Probleme einen Spaziergang lang zu vergessen.

      Er erzählte gerade einen jener Herrenwitze, die er so liebte, wunderte sich aber, dass der Herr Kriminalrat mit so wenig Konzentration zuhörte. Na ja, immerhin war der bei der Sitte. Schon möglich, dass er schmutzigere Witze kannte.

      Er wollte gerade bitten, einen solchen zu erzählen, als ihn der Kriminalrat an der verletzten Schulter fasste und zu Boden riss. Der Aufforderung, in Deckung zu gehen, kam der Minister automatisch nach. An der Front gelerntes vergisst man nie. Auch nicht das Knallen von Schüssen, die nun zu hören waren.

      „Wieder so ein verfluchter Attentäter? Hier, im Schwarzwald?“, fragte der Minister fassungslos.

      Der Kriminalrat sah durch das Gebüsch, welches vorerst Deckung bot. „Ich bin mir sicher, es sind mehrere Attentäter. Nach den Geräuschen der Schüsse tippe ich auf drei. Gut verteilt, wenn sie clever genug sind.“

      „Drei?“, wiederholte der Minister. „Und alle bewaffnet? Dann haben wir keine Chance.“

      „Es gibt immer eine Chance. Wir müssen versuchen, auf öffentliches Terrain zu kommen. Ein paar Schritte weiter ist eine Straße. Dort werden sie nicht einfach so rumballern.“

      „Als man mich in Moabit anschoss, interessierte es den Schützen auch nicht, mitten in der Großstadt zu sein.“

      „Wollen Sie sich lieber im Wald abknallen lassen, Herr Minister? Wir sind doch keine Rehe. Wir sind Soldaten. Bleiben Sie in Deckung, Kopf runter. Da ist die Straße.“

      „Da“ war mindestens hundert Meter entfernt, wie der Minister mit einem heimlichen Seufzer feststellte. Er hatte keine Lust, zu sterben. Aber auch die Schnauze voll davon, ständig um sein Leben rennen zu müssen. Irgendwann ermüdet man durchs Kämpfen.

      Also stand er auf. Mit erhobenen Händen. Das sollten die Angreifer verstehen. Seine Worte auch: „Ihr verdammten, feigen Schweine. Ihr wollt Deutsche sein? Vielleicht noch deutsche Soldaten? Deutsche Soldaten schießen nicht aus dem Hinterhalt auf ihre Offiziere. Zeigt euch, wenn ihr den Mut dazu habt. Wir sind unbewaffnet.“

      „Wir sind nicht unbewaffnet.“ Mit diesen Worten stand einer der Attentäter auf. Er war nur dreißig Schritt entfernt, aber so gekleidet, dass er gut mit der Umgebung verschmolz.

      Der Minister erkannte ihn trotzdem. „Oberleutnant Baltheisser? Sie sind sich also nicht zu schade, einen ehemaligen Vorgesetzten anzugreifen?“

      „Es heißt inzwischen Hauptmann Baltheisser. Nur, damit der Herr Minister auf dem Laufenden ist. Außerdem waren Sie von dem Moment an nicht mehr mein Vorgesetzter, als Sie den Waffenstillstand mit dem Feind unterschrieben haben. Als erster, wie ich hörte.“

      „General von Dietrichstein hatte die Freundlichkeit, mir den Vortritt zu lassen. Schließlich hatte ich die Vereinbarungen zum Waffenstillstand hauptsächlich ausgearbeitet.“

      „Sie haben seit Beginn des Krieges gegen diesen gekämpft. Sie und dieser Professor Rath. Der Professor ist tot, wie Sie vielleicht aus der Zeitung wissen.“

      „Haben Sie mir das gleiche Schicksal zugedacht?“

      Der Hauptmann lächelte nur. Dann pfiff er auf den Fingern und der Minister konnte sehen, es waren noch zwei weitere Attentäter da. Genau wie der Kriminalrat vermutet hatte. Alle drei waren bewaffnet. Mit Karabinern, Pistolen und Seitengewehren. Als wären sie an der Front. Vielleicht waren sie ja an der Front, dachte der Minister. Für den Hauptmann Baltheisser schien der Krieg noch nicht zu Ende zu sein.

      „Wir wollen dich nicht so einfach erschießen, Minister.“ Der Hauptmann beobachtete, wie seine Kameraden näherkamen, statt den anzusehen, mit dem er sprach. „Was nutzt uns schon ein toter Minister. Ihr habt nicht nur einen schändlichen Waffenstillstand unterschrieben, sondern seid nun dabei, einen noch viel schändlicheren Frieden auszuhandeln. Wir wollten dir dazu die Meinung des Volkes mitteilen. Das lehnt jeden Frieden mit seinen Erbfeinden ab. Wir sind vielleicht etwas grob dabei gewesen und haben geschossen. Aber der Minister wird sich unsere Ermahnung deshalb viel besser merken, als wenn wir sie in diplomatische Worte gesteckt hätten.“

      Inzwischen standen alle drei Offiziere viel näher beim Minister. Ihre Karabiner waren auf ihn gerichtet und er war nicht der Meinung, die Szenerie hätte an Bedrohlichkeit verloren. Auch wenn die Worte des Hauptmannes einen anderen Eindruck vermitteln wollten.

      „Wenn ihr mich nicht erschießen wollt, wieso habt ihr immer noch eure Waffen auf mich gerichtet?“, fragte er.

      Das Lächeln des Hauptmannes war keine Antwort, sondern eher eine weitere Drohung. „Wenn wir dich erschießen, Minister, müssten wir ja den Herrn Kriminalrat mit erschießen, mit dem du gewandert bist. Für einen Polizisten ist er ziemlich feige.“

      Der feige Polizist stand bei diesen Worten auf. „Ich bin nicht feige, ich bin vorsichtig. Wenn man unbewaffnet ist, scheint mir das eine gute Polizeitaktik zu sein. Gewehrkugeln sind so schnell, keiner kann ihnen davonlaufen.“

      „Doch, ihr könnt davonlaufen. Wir schenken euch euer erbärmliches Leben. Vorerst. Denkt immer an die mächtige Hand der Feme. Sie erreicht euch überall. Feige Politiker, die mit dem Feind paktieren, sterben schnell in der heutigen Zeit. Und jetzt lauft!“

      „Wir dürfen gehen?“, fragte der Minister ungläubig.

      „Ich würde mich damit beeilen. Meine Kameraden würden euch lieber tot sehen, aber ich schenke euch das Leben. Also lauft schon. Lauft schnell.“

      Der Minister beeilte sich, dieser Aufforderung nachzukommen. Irgendwo dort vorn war die Straße. Wo die Straße war, war Sicherheit. Also lief er.

      Der Kriminalrat lief nicht ganz so schnell. Vielleicht traf ihn deshalb der erste Schuss. Genau in den Kopf. Die anderen Schüsse trafen alle den Minister. Der hatte die Straße fast erreicht, als er getroffen wurde, und fiel nun die Böschung hinab, die ihn von der Straße trennte. Im Sterben sah er, wie sich die drei Männer über ihn beugten, die auf ihn geschossen hatten. „Ist er nun endlich krepiert?“, fragte einer von ihnen.

      „Scheint nicht so“, erwiderte der Hauptmann. „Der andere ist schon krepiert. An einem direkten Schuss in den Kopf. Oberst von Krüger bat mich darum. Ihr wisst, was geschieht, wenn man ihm nicht gehorcht. Der hier wird auch gleich sterben. Machen wir dem Scheiß ein Ende und verschwinden dann.“

      Der Minister sah noch die auf ihn gerichteten Karabiner. Die Schüsse hörte er nicht mehr.

      Ort: Psyche, Moskau, Kreml

      „Ich dachte, ich habe nicht richtig gehört, als mir mein Sekretär deinen Besuch meldete.“

      „Überrascht? Ich wollte dir nur zur Genesung gratulieren, Genosse Bolschoi. Was ist daran so ungewöhnlich?“

      „Ich dachte, du seiest ein unverzichtbarer Kommandeur unserer siegreichen Revolutionstruppen in deiner grusinischen Heimat, Genosse Wissarew.“

      Der Genosse Wissarew spürte diesen Hieb. Der saß doppelt. Er war kein unverzichtbarer Kommandeur, sondern musste im Laufe des Bürgerkrieges erkennen, dass seine militärischen Fähigkeiten minimal waren. Außerdem hasste er es, von Russen wie Bolschoi darauf hingewiesen zu werden, aus welcher Gegend des Reiches er eigentlich stammte und dass er kein Russe sei. Vater Robert hatte sich alle Mühe gegeben, Pepis Aussprache zu verbessern. Aber besonders dann, wenn Wissarew aufgeregt oder wütend war, hörte man seinen Worten an, dass er kein echter Russe war. Die meisten Russen, mit denen er sprach, quittierten diese Tatsache mit einem Lächeln. Meist mit einem verächtlichen Lächeln.

      „Meine Fähigkeiten als Kommandeur sind nicht länger gefragt, Genosse Bolschoi. Die Georgische Sozialistische Sowjetrepublik ist festes und unverbrüchliches Mitglied unseres großen, revolutionären Reiches. Auch Dank meiner Arbeit“, erklärte Wissarew.

      „Hauptsächlich Dank deiner Arbeit, Genosse Wissarew. Sei versichert, wir werden deine Verdienste nicht vergessen. Allerdings vergisst das Zentralkomitee auch nicht den Streit zwischen dir und dem Genossen Michael Arx. Habt ihr diesen Streit inzwischen beendet?“