Peter Berg

Ein Sommer in Cassis


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Langsam ging ich zu meinem verlassenen Frühstückstisch zurück, wo noch ein angebissenes Croissant neben der Tasse mit inzwischen kalt gewordenem Milchkaffee lag. Daneben der Roman und mein Tagebuch. Beides Versuche, in diesem Urlaub endlich mal wieder abzuschalten und mich auf Wesentliches zu besinnen. Schon kam das Geheul eines heranfahrenden Polizeifahrzeugs schrill um die Ecke. In knapp einer halben Stunde konnte man von Marseille herüberkommen. Ihm folgte ein ziviler Wagen der Mordkommission.

      Nur zu gut kannte ich die Rituale, die jetzt einsetzten. Auch aus der Distanz konnte ich jeden einzelnen Schritt der Ermittlungen nachvollziehen. Ich zwang mich, mein Buch aufzuschlagen, um nicht hinüberschauen zu müssen. Doch ich ertappte mich, drei Seiten gelesen zu haben, ohne ein einziges Wort zu verstehen. Viel mehr kreisten meine Gedanken um diese Tätigkeit, die mir nun aus der Distanz so hoffnungslos, ja sinnlos vorkam. Nichts konnten sie mehr reparieren und wieder gut machen. Ein trauriges Geschäft. Mit der Zeit, so war mir schon lange klar, stumpft man ab in diesem Beruf. Man muss sich schützen vor all den grausamen Eindrücken. Leichen, die gerade noch beseelt im Leben waren, werden zu Objekten nüchterner Betrachtungen und Recherchen.

      Zuerst deckten sie ein weißes Leinentuch über die Tote, um sie vor weiterer Neugier zu schützen. Und anstatt dem erbaulichen Gang meines Romanes zu folgen, sah ich für einen kurzen Moment nur das morgendliche Zwinkern Isabelles vor meinem inneren Auge. „Comme toujours?“

      „Mein Gott, das junge Ding“, brachte Catherine hervor, als sie das Frühstücksgeschirr auf das silberne Tablett räumte. Sie war wie ich zum Steg hinübergelaufen, um einen Blick auf die ungewöhnliche Szene zu werfen. Dabei hatte sie voll Schreck feststellen müssen, dass die Tote ihre Kollegin war. Wie versteinert hatte sie an die zehn Minuten dort in der Menge gestanden. Dabei waren ihr die wildesten Mutmaßungen durch den Kopf geschossen. Dann regte sich ihr Pflichtbewusstsein und sie dachte daran, dass sie Hotel und Restaurant nicht zu lange unbeaufsichtigt lassen durfte und war zurückgeeilt.

      „Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“, fragte ich mit gewohnter Routine. Man kann seine Berufshaltung nicht so ohne weiteres abstreifen. Als ich es merkte, war die Frage schon heraus.

      „Gestern am Mittag, sie hatte wie immer die Frühschicht von sieben bis fünfzehn Uhr.“

      Catherine war eine auffallend hübsche Frau, Anfang bis Mitte dreißig, die tagsüber die Rezeption und morgens bei der Bewältigung des Frühstücks den Thekendienst versah. Da wir uns gleich sympathisch waren, hatten wir uns bei Gesprächen über belanglose Themen, Smalltalk übers Wetter und andere Befindlichkeiten, angefreundet.

      „Ich habe sie gestern besonders fröhlich gesehen“, fuhr sie fort und war offenbar froh, mit jemandem über die schockierenden Ereignisse sprechen zu können. „Irgendwie war Isabelle verändert, in freudiger Erwartung, wenn ich es mir jetzt so überlege. Ich habe sie gefragt, ob sie in der Lotterie gewonnen hätte, aber sie hat nur ausweichend geantwortet, das könne man nie wissen geheimnisvoll die Augen nach oben gedreht. Dabei hat sie gelacht, wie sie es immer tat, um Fragen auszuweichen, die sie nicht beantworten wollte. Sie hatte ein so fröhliches Wesen. Dabei war es kein leichtes Leben, das sie führte. Und irgendetwas lag in der Luft.“

      „Hatte sie einen Freund?“ fragte ich fast mechanisch weiter. Dass es sich nicht um Freitod oder einen Unfall handelte, war mir sofort klar gewesen, und auch Catherine schien dies zu wissen. Der starre Ausdruck des Grauens in den Augen des Mädchens hatte es mir gesagt. Wenn tote Augen sprechen könnten! Menschen, die ins Wasser gehen, um ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen, haben manchmal noch den Ausdruck der stillen Verzweiflung im Gesicht, oft aber auch einen Hauch von Ruhe, ja beinahe des friedlichen Einschlafens. Hier aber stand das Grauen mit solch unbarmherziger Deutlichkeit in dieses so schöne, junge Gesicht geschrieben, dass etwas Entsetzliches geschehen sein musste, bevor das Mädchen ins Wasser stürzte und ertrank. Auch das zerrissene Kleid sprach schon ohne nähere Untersuchung dafür, dass hier ein Verbrechen geschehen war. Zweifellos musste auch eine Obduktion angeordnet werden.

      „Nicht dass ich wüsste“, entgegnete Catherine nach einer Weile des gedankenverlorenen Schweigens, „sie lebt bei ihrer Mutter und verdient für beide den Unterhalt. Die Frau bekommt wohl keine Rente, und ich glaube sie ist krank und kann nicht arbeiten. Der Mann ist früh gestorben, Isabelle hat nie von ihrem Vater gesprochen. Sie war meist von einem fröhlichen Wesen, aber auch sehr verschlossen, wenn es darum ging, Persönliches mitzuteilen. Sie sprach nicht gern über ihr Leben.“

      „Weißt du, ob sie eine Freundin hatte, junge Mädchen sind doch selten allein, sie treffen sich, sie gehen zusammen aus?“

      „Oh, was glauben Sie, Monsieur“, Catherine lachte kurz auf und vergaß für einen Moment das Drama, das sich ereignet hatte, „dafür gibt es überhaupt keine Zeit. Isabelle bedient doch abends noch bis Mitternacht in einem Fischrestaurant hier in einer der Seitenstraßen. Sie war so fleißig, mon Dieu, das arme Ding!“ Sie zuckte ratlos mit den Schultern und trug das Tablett davon.

      Das Restaurant hatte sich inzwischen mit Hotelgästen gefüllt, meist Franzosen, die nun ihr Petit Déjeuner verlangten, einen Mocca und höchstens ein Croissant. Auch einige der Eigner von Luxusyachten, die hier vis à vis an der Mole ankerten, kamen gern auf eine Tasse des lebensspendenden Getränkes hierher. Nun, da sich das Ereignis im Hafen offenbar herumgesprochen hatte, bekam Catherine besonders viel zu tun, musste sie doch Isabelles Arbeit noch mit erledigen. Dennoch kehrte sie wenig später zu mir an den Tisch zurück und fügte wie in einem inneren Dialog, der sie in Rätseln gefangen hielt, hinzu: „Sie ist jeden Morgen auf direktem Wege von der Wohnung zur Arbeit gekommen, meist war sie spät dran und musste sich beeilen. Warum war sie heute so früh im Hafen? Ich verstehe das nicht. Und wer tut ihr so etwas an?“

      Nein, ich wollte absolut nicht in diese Sache hineingeraten! Das war überhaupt nicht mein Fall, und indem ich mir dieses ins Bewusstsein rief, kam mir mein ursprünglicher Plan wieder in den Sinn, mich heute früh mit meinem Buch fernab der Strandgäste an den Leuchtturm zu setzen.

       Tagebucheintrag:

       Samstag, der 13. Juli

       Wir schaffen uns unsere Welt, und unsere Welt schafft uns.

       Mache ich mir doch endlich klar, dass ich irgendwann folgenreiche Entscheidungen getroffen habe, die dazu führten, dass ich dort angelangt bin, wo ich bin! Am Ende einer Sackgasse.

       In meiner Frankfurter Tretmühle kann ich solche Gedanken nicht fassen. Hier aber, in dieser Oase, wird mir nun schlagartig klar, dass ich selbst der Mittelpunkt meiner Welt bin.

       Da passiert ein aktueller Mordfall, und ich könnte doch ganz ruhig und gelassen auf meinem Kaffeehausstuhl sitzen bleiben, mich des schönen Tages erfreuen. Doch was tue ich? Die in meine Seele eingebrannten Muster lassen mich aufschrecken, als sei ich schon wieder an der Reihe, müsste auch hier wieder alle ungeklärten Mordfälle dieser Welt lösen.

       Wenn man jung ist und aufstrebend, sucht man tragende Säulen.

       Eine solche ist der Beruf. Ich habe mich, immer ehrgeizig, in der Hierarchie nach oben gedient. Niemand kann mir vorwerfen, ich sei jemals nachlässig und nicht genügend pflichtbewusst gewesen. Immer an vorderster Front, immer rund um die Uhr im Einsatz. Als Leiter der Abteilung schließlich ein Vorbild für alle.

       Wirklich ein Vorbild?

       Wir tun stets so, als wollten wir einen hohen Berg erklimmen, um irgendwann auf dem Gipfel zu stehen und dann in Ruhe den herrlichen Rundumblick zu genießen. Aber sind wir nicht eher wie hässliche Käfer, die an einem glatten Eisenrohr emporklettern, um, oben kaum angelangt, in die tiefe Dunkelheit hineinzustürzen? Oder, um in dem Bild vom Berg zu bleiben: Wir stürmen los und vergessen vor lauter Karrierestreben, oben inne zu halten. Wir rennen stattdessen am Gipfel weiter und stürzen in das dahinter liegende Tal.

       Eine zweite Säule, die ich baute, die Familie, hat in meinem Leben schändlich gelitten. Viel zu spät habe ich gemerkt, dass man in meinem Beruf vielleicht gar keine Familie haben sollte. Es ist kein normaler Beruf, weil er keine geregelte Freizeit zulässt. Der Beruf hat mein Privatleben