Peter Berg

Ein Sommer in Cassis


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Haus in einer Vorortstraße finanziert hatten.

      „Absahnerei nennt man das in Deutschland, glaube ich“, sagte Catherine.

      „Woher können Sie eigentlich so gut Deutsch?“ fragte ich, doch meine Frage ging unter in dem gerade wiedereinsetzenden Beat.

      Wir verließen das Lokal und ließen uns in der Menge treiben, denn die Lieblingsbeschäftigung der zehntausend Sommergäste, die täglich hier flanieren, ist das allabendliche Suchen nach einem Sitzplatz in einem der zahllosen Restaurants, die vor den ehemaligen Fischerhäusern eingerichtet sind. Jedes nur denkbare Eckchen wird für einen Tisch mit Stühlen genutzt. So findet ein ständiger Perspektivenwechsel statt, bei dem beide Seiten sich für die Beobachter halten: Diejenigen, die glücklich sind, einen Stuhl ergattert zu haben, zahlen für überteuerte Getränke, um in Ruhe die Vorbeiziehenden anschauen zu können. Die Vorbeiziehenden betrachten das Anschauen der Sitzenden als schönstes und durch nichts zu ersetzendes Abendprogramm, höchstens durch das Glück, selbst einen Sitzplatz zu erwischen.

      Nun war es höchste Zeit, das Fischrestaurant aufzusuchen, bevor dort ebenfalls alle Plätze besetzt waren. Catherine zog zielstrebig zu einer der Seitenstraßen, und über wenige Gassen und Plätze erreichten wir ‚Chez Gustave‘, ein Restaurant, dessen Küche offenbar im Obergeschoss des Hauses lag, während die dazu gehörenden Tische und Stühle der Speisegaststätte auf der Straße standen. Viele Restaurants dieser Art sparen den notwendigen Gastraum, indem sie auf das gute, mediterrane Wetter vertrauen und den Gästen das beschriebene Vergnügen gönnen, beim Essen die Vorbeiziehenden betrachten zu können und von diesen gleichzeitig beim Essen begutachtet zu werden. Sehen und gesehen werden!

      „Lassen Sie uns diesen Tisch hier nehmen, gleich bei der Treppe“, legte Catherine sich fest, und ich hatte das Gefühl, sie tat es mit Bedacht. Es gab Tische für zwei und Tische für vier Personen. Wir nahmen an einem freien Zweiertisch platz. So hatten wir, nahm ich an, für unsere Gespräche keine Mithörer.

      Der Wirt, dessen Aufgabe es war, zu Beginn des allabendlichen Rituals die Vorbeiziehenden zum Platznehmen zu animieren, war von unserer Entschlussfreude angetan, andere Suchende standen noch unschlüssig an den in der Gasse aufgestellten Speisekarten, die auf bunten Schautafeln die zahlreichen Menüvorschläge und -kombinationen mit Pauschalpreisen in allen Preisklassen enthielten.

      „Mögen Sie Muscheln oder Fisch?“

      Catherine war absolut überzeugt, dass die hier angebotenen Muscheln bar jeden Verdachts genießbar waren. Seit ich von Muscheln mit hoher Schadstoffkonzentration gelesen hatte, kann man mich mit Muscheln jagen. Wohl um mich von deren Unbedenklichkeit zu überzeugen, bestellte sie sogleich die schwarzen Schalentiere.

      Der Wirt brachte zunächst ungefragt wunderbar frisches Weißbrot in leicht angerösteten Scheiben mit einem Dip zum Bestreichen. Der zuvor in der Bar genossene Wein hatte meinen Hunger geweckt, sodass ich, noch bevor der erste Gang kam, ordentlich zulangte.

      „Sie beherrschen die deutsche Sprache erstaunlich gut“, stellte ich nun erneut fest, um die Conversation in Gang zu bringen, „wo haben Sie das so gut gelernt?“

      „Ich habe eine bewegte Vergangenheit, die mich auch einige Jahre nach Deutschland führte“, entgegnete meine schöne Begleiterin. Sie saß mir nun vis-à-vis und spielte bei diesen Worten mit dem Brotstück, die Augen nach unten geschlagen, als wolle sie eigentlich über dieses Thema nicht sprechen.

      „Die Musik vorhin“, hob ich von neuem an, „wovon haben sie gesungen?“

      „Eine kritische Geschichte, die hier jeder versteht“, sprudelte sie nun, offenbar dankbar für den Themenwechsel, hervor.

      „Ein junger Mann liebt ein Mädchen, doch er ist arm und kann ihr nichts bieten. Sie aber hat hohe Ansprüche an das Leben. Dann trifft sie den reichen, älteren Mann, der ihr ein Leben in Luxus verspricht. Er, wie sagt man, ködert sie mit Geld, bietet ihr alles, was ihr Herz begehrt. Doch er nutzt sie nur aus, verbraucht ihre junge Liebe, und zurück bleibt eine ausgebrannte Seele.“

      „Wann setzt der Beat ein, das Stück verbindet doch Melancholie mit Protest, oder?“

      „Ja, der Schlag kommt mit dem Refrain, der sagt, dass das junge Mädchen sich auf ihre Liebe besinnen und zu dem jungen Mann zurückkehren soll. Liebe ist mehr wert als alles, was man mit Geld kaufen kann, auch wenn du glaubst, mit Geld Liebe kaufen zu können. So jedenfalls ist das Fazit der Geschichte.“

      „Wie wahr“, sinnierte ich und dachte nur kurz an mein Frankfurter Mordszenario, das ich vor einer Woche hinter mir gelassen hatte. Hier unter südlichem Himmel kam es mir wie Jahre entfernt vor.

      „Sie wissen natürlich längst, warum ich mit Ihnen heute hier essen gehen wollte?“ fragte sie nun unvermittelt.

      „Sie wollten mit mir essen gehen, ich dachte, ich hätte Sie eingeladen?“ entgegnete ich mit gespieltem Erstaunen.

      „Mit einem charmanten Herrn gehe ich jederzeit gern essen, Monsieur Commissaire“, lachte sie nun spitzbübisch, „doch reizvoller ist es, wenn dazu noch ein gemeinsames Projekt kommt.“

      „Nun, ich denke, es ist wohl das Fischrestaurant, in dem die junge Kellnerin aus unserem Hotel abends noch bediente“, sprach ich meine Vermutung aus. „Aber was das gemeinsame Projekt betrifft, weiß ich nicht, was Sie meinen, liebe Catherine!“ Erstmals sprach ich sie beim Vornamen an, um zu sehen, wie sie darauf reagieren würde. Sie tat ungerührt: „Ja, sie muss bis gegen Mitternacht hier gewesen sein. Wenn man die Spur aufnehmen will, muss man hier beginnen.“

      Was in aller Welt dachte sie sich? Glaubte sie ernsthaft an ein Interesse bei mir, meine Berufstätigkeit hier im Urlaub fortsetzen zu wollen? Und warum hatte sie ein Interesse daran, die Arbeit der hiesigen Polizei in Zweifel zu ziehen? Und dabei hatte ich mich schon in der Illusion gewähnt, ihre Aufmerksamkeit gelte ausschließlich mir als attraktivem Fünfziger! Waren die schönen, blaugrünen Augen, die sie mir machte, nur berechnendes Mittel zum Zweck? Welches Ziel hatte sie im Sinn, und welches waren ihre Motive?

      „Also gut“, gab ich zu, „mein Beruf ist das Kriminalhandwerk. Ihnen kann ich nichts verheimlichen. Aber ich bin hier im Urlaub und deswegen eher an den Reizen lebendiger Wesen interessiert. Warum sollte ich nicht jenseits aller Greueltaten einfach mit einer attraktiven Frau hier essen gehen?“ Das Kompliment kam an. Sie griff nach meiner Hand, drückte sie und sagte: „Nenn mich bei meinem Vornamen, ich heiße Catherine, wie du weißt. Und warum sollte nicht das eine mit dem anderen vereinbar sein?“

      In diesem Moment brachte eine junge Frau eine große Terrine mit Bouillabaisse, der bekannten Fischsuppe, platzierte die Teller, schöpfte mit einer Kelle auf und wünschte „Bon appétit!“

      „Glaub mir, Jens,“ mein Name hörte sich wie gehaucht aus ihrem Munde an, „ich habe einen Verdacht, was hier zum Himmel stinkt, und es ist nicht das erste Mal, dass eine junge Frau umgebracht wird. Das muss aufhören, bevor noch mehr Morde passieren!“ Sie schaute mich mit ihrem Katzenblick an, der ihre Erregung sichtbar werden ließ. Nun senkte sie wieder die Stimme, die bei den letzten Worten unvermeidbar lauter geworden war und fügte appellierend hinzu: „Es geht hier um mehr als ein flüchtiges Abenteuer, glaube mir. Dich hat der Himmel geschickt, damit endlich Licht in das Dunkel kommt und jemand mit Kompetenz die richtigen Fragen stellt!“

      Ich blickte sie nur ungläubig an, denn ich konnte mir kaum ernsthaft vorstellen, mich in die Arbeit der französischen Kollegen unbefugt einzumischen. Warum sollte ich an der Ernsthaftigkeit ihrer Ermittlungen zweifeln? Welchen Grund sollte es geben, Morde unter den Teppich zu kehren? Wahrscheinlich waren meine Augen an dieser Stelle blind, und ich ging einer hysterischen Frau auf den Leim, die sich etwas zusammenreimte, nur weil ich lange keine Gelegenheit zu einer ordentlichen Beziehung gehabt hatte. Vorsicht, Jens, sagte ich mir, pass auf, dass du der netten Catherine nicht auf den Leim gehst!

      Gustave, der Wirt, stand am Eingang, immer noch auf Kundenfang, doch wenn erst einmal die meisten Tische besetzt sind, füllen sich auch die restlichen schnell, denn wo viele speisen, vermuten andere auch eine gute Küche. Gustave schaute hin und wieder zu uns herüber. Vielleicht hatte er ein paar Worte aufgeschnappt, und