Peter Berg

Ein Sommer in Cassis


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Mocca zu ihm zu setzen.

      „Was tut man um diese Zeit als Tourist schon auf der Promenade?“ fragte er freundlich interessiert und gab dem Wirt ein Zeichen, mir auch das lebensspendende Getränk zu bringen.

      „Ich bin ein Frühaufsteher und ich habe festgestellt, man trifft noch andere, interessante Leute um diese Zeit. Aber warum sind Sie schon auf den Beinen? An einem Feiertag wollen Sie doch wohl nicht arbeiten?“

      „Doch, ich habe mein Büro in einer der Seitenstraßen hier. Der Welthandel richtet sich nicht nach dem französischen Nationalfeiertag. Es gibt gute Geschäfte, die man nicht warten lässt.“

      Er bot mir eine Zigarette an, Marke Gauloises.

      Wir kamen ins Plaudern, und ich erfuhr, dass er früher seinen Handel mit Modeschmuck von Paris aus führte, bis er merkte, dass es angenehmere Plätze auf der Welt gibt, als die Großstädte.

      „Telefon und Internet lassen es zu, dass man von überall aus Handel betreiben kann. So bin ich vor fünf Jahren hierher umgezogen.“ Und er fügte lächelnd hinzu: „Das Ambiente muss stimmen.“

      „Wo haben Sie denn ihre Waren? Gibt es ein Lager, ein Magazin oder etwas Ähnliches?“

      „Nein, wo denken Sie hin?“ lachte er, „bis auf wenige Probeexemplare in meinem Büro geht das alles Cost per Order vom Hersteller an den Großkunden. Wir vermitteln die Geschäfte, und wir verdienen sehr gut dabei.“ Er zwinkerte mir mit einem Auge und sagte: „Mein Geschäft ist in der Rue Filou 23.“ Dann schaute er auf die Uhr und besann sich, nun schnell aufzubrechen. Die Geschäfte warteten auf ihn. Er wiederholte noch einmal: „Vergessen Sie nicht, Rue Filou 23“, und fügte hinzu, „nur das Schönste und nur das Beste von allem, kommen Sie vorbei zu schauen!“

      Sicher besaß er eine der Villen am Hang, sinnierte ich, als er gegangen war, wahrscheinlich auch eine der teuren Yachten im Hafen.

      Etwas später, wieder an der Promenade, hielt ich wie jeden Morgen nach der jungen Deutschen Ausschau, die ihr Geld mit dem Verkauf von Sonnenbrillen verdiente. Ich war gleich am ersten Tag meines Urlaubs auf sie gestoßen, denn meine Sonnenbrille war in der Hektik des Kofferpackens daheim geblieben. Genau genommen wusste ich nicht mal mehr, ob ich nach dem Verlust der vorigen überhaupt noch eine in meinen Sachen hätte finden können. Die Sonnenbrillenverkäuferin, - „ich heiße Anja“ -, entlarvte mich beim Verkaufsgespräch rasch als Deutschen, war sehr gesprächig und ließ mir schließlich sogar vom Preis etwas nach. Seit diesem Tag hatte ich jeden Morgen im Vorübergehen ein paar Worte mit Anja gewechselt. Im Urlaub entsteht schnell Vertrautheit, sind die Seelen offen für den Empfang zwischenmenschlicher Signale. Sie war vielleicht Mitte bis Ende zwanzig und hatte ihrem Heimatland den Rücken gekehrt, um hier ihr Lebensglück, vielleicht sogar ihr Liebesglück, zu finden. Dabei schien sie im Gespräch mit mir als Landsmann etwas von einem zarten Zweifel zu transportieren, ob nicht doch das Leben in heimischen Gefilden irgendwann wieder seine Reize gewinnen würde. Ich spürte, so meinte ich, so etwas wie Heimweh.

      Heute, an diesem Hauptgeschäftstag des Jahres, war ihr Stand um kurz nach neun seltsamerweise noch geschlossen. Sonst hatte sie immer schon die Schirme aufgespannt und ihre Kollektion ausgebreitet. Ich warf einen Blick an dem alten, restaurierten Fischerhaus empor, da sie mir gesagt hatte, dass sie das Zimmer im zweiten Stock bewohnte. Ich sah zu den Fenstern, ob sich dort nichts regte. Die Vorhänge waren zugezogen, nichts deutete auf einen baldigen Arbeitsbeginn hin.

      Ich weiß nicht warum, das weiß man in solchen Fällen nie, aber irgendetwas trieb mich zum Eingang des Hauses, der offenbar stets unverschlossen war und die Stufen zum zweiten Stock empor. Irgendetwas sagte mir, dass hier etwas vorgefallen sein musste, irgendetwas Ungewöhnliches, das den täglichen Rhythmus durchbrach.

      Schon wieder mischte ich mich in eine Privatssphäre ein, doch das treffsichere Feeling, das mich in solchen Fällen nie im Stich lässt, verbot mir, einfach weiter meines Weges zu gehen.

      Diese schmalen Häuser werden längst nicht mehr nur von Fischern bewohnt. Ihre Besitzer haben sie zu wertvollen Immobilien umfunktioniert. Die Bauweise eines solchen Kleinodes ist ganz einfach: Jedes Stockwerk verfügt nur über ein Zimmer. Da nur wenig Platz für die Frontseite vorhanden ist, geht es in die Tiefe. Aus den ehemals für Fischerfamilien geplanten Wohnetagen mit verschiedenen Funktionen wurden nunmehr Ein-Zimmer-Apartements, die über schmale Stiegen erreichbar sind. Im Erdgeschoss befindet sich eine sündhaft teure Mietfläche, die als Geschäft, Boutique oder Restaurant genutzt wird, Sitzflächen oder Verkaufsstände sind auf der Promenade davor.

      Die junge Deutsche aus Neu-Isenburg hatte auf meine Frage, wie es sich hier lebt, „hervorragend“ geantwortet und hinzugefügt, dass sie mit niemandem auf der Welt tauschen möchte. „Ich habe hier eine Wohnung mit einem atemberaubenden Ausblick über den ganzen Hafen, wie ich es mir immer gewünscht habe, fast immer schönes Wetter, und ich bin meine eigene, freie Unternehmerin!“

      Als ich das Zimmer betrat, schlug mir eine Wolke von extrem süßlichen Düften entgegen, die wohl unter anderem von Duftkerzen oder Räucherstäbchen verschiedener Parfümierung stammten, nun aber mit der extrem verbrauchten Luft in dem abgedunkelten und ungelüfteten Raum sich zu einem widerlichen Gestank mischten, der mir fast den Atem nahm. Ich hatte angeklopft aber keine Antwort bekommen. Unheil ahnend hatte ich die Klinke gedrückt und festgestellt, dass die Tür unverschlossen war.

      Nun musste ich erst meine Augen an das Halbdunkel gewöhnen. Ich glaubte zu spüren, dass jemand im Raum war, doch es dauerte eine Weile, bis ich die Lage erkannte. Auf einem Sofa lag sie ausgestreckt, nur halb bekleidet, regungslos wie tot. Ein Arm hing auffällig schlaff zu Boden, jetzt erkannte ich, dass ihr langes, blondes Haar wild zerzaust war, die Augen geschlossen, ihr schöner Mund dabei wie zum Schrei geformt, als wolle sie mir etwas sagen. Das ganze Zimmer in heillosem Durcheinander, überall herausgezogene Schubladen, ausgeräumte Bücherregale.

      Schnell trat ich zu den Fenstern, zog die Vorhänge zurück und öffnete die Flügel beider Fenster weit. Mit dem Licht der eindringenden Sonne sah ich das ganze Unglück: Sie lag in ihrem Blut, war über den herunterhängenden Arm vollkommen leergelaufen. Der Fußboden schwamm, und ich hatte mit meinen Schuhen bereits rote, klebende Spuren hinterlassen.

      Wie gern hätte ich sie ins Leben zurückgeholt. Doch die blutleere Blässe auf ihrem halbbekleideten Körper, die Menge des schon vor Stunden ausgetretenen Blutes beschied mir, dass alle Hoffnung verloren war. Obwohl sie aussah, als schliefe sie, war mir sofort klar, hier war nichts mehr zu retten. Zu oft schon war ich beruflich in dieser Lage gewesen, und dennoch gab es mir immer noch einen Stich ins Herz, vor allem wenn es sich um so junge Menschen handelte.

      Gewohnt, kühlen Kopf zu bewahren, sah ich mir zuerst die Todeswunde an. Instinktiv spürte ich, dass diese rasche Abfolge mysteriöser Todesfälle kein Zufall sein konnte.

      Offenbar sollte es für den oberflächlichen Beobachter und auf den ersten Blick wie ein Selbstmord aussehen.

      Die Schnittwunde war gekonnt gesetzt. Viele Menschen, die sich die Pulsadern aufschneiden, setzen in ihrer Not und Unkenntnis den Schnitt falsch. Dieser Dilettantismus führt Gott sei Dank dazu, dass sie in vielen Fällen, bei rascher Entdeckung, noch gerettet werden können. Hier aber war alles ‚richtig‘, sodass der Tod durch Verbluten bald eingetreten sein musste.

      Sie sah so schön, so jung und so friedlich aus!

      Die Unordnung im Zimmer wies darauf hin, dass jemand etwas gesucht hatte. Das, so schloss ich kühn, musste geschehen sein, nachdem sie bereits tot war oder noch im Sterben lag.

      Als Indizien gelten uns Kriminalisten sowohl feststellbare Sachverhalte, zum Beispiel über vorhandene Gegenstände, deren Lage und Zustand, aber auch Feststellungen über nicht Vorhandenes.

      Auf dem Tisch waren die Reste verschiedener Räucherkerzen zu sehen, Spuren von Zigarettenasche in einem offenbar geleerten Aschenbecher, nicht jedoch die Kippen oder Schachteln der Zigaretten. Es war geraucht worden, darauf hatte auch die Luftmischung im Raum hingedeutet, doch hatte jemand die Spuren davon beseitigt.

      Eine Flasche Rotwein stand auf dem Fußboden, leer, Gläser waren nirgends zu sehen. Entweder war die Flasche so an