zu entdecken war ein Abschiedsbrief, wie ihn Lebensmüde oft schreiben, um ihre Motive für die Nachwelt zu erläutern.
Ich hatte viele Menschen gesehen, die des Lebens überdrüssig waren, diese Frau war es nicht, da war ich mir ganz sicher.
Aber ein ganz anderes Indiz sprach eindeutig und zweifellos gegen den Suizid: Nirgendwo im Raum war ein scharfes Messer, eine Rasierklinge oder etwas Ähnliches zu finden, das der Selbsttötung hätte dienen können. Ohne dieses Instrument jedoch war nur die Tat eines bislang Unbekannten anzunehmen! Schnell durchsuchte ich das gesamte Zimmer, nirgendwo war das Tatwerkzeug zu entdecken.
Dann schaute ich mir noch einmal genau die klaffende Wunde an.
Ich musste jeden Moment damit rechnen, dass noch jemandem das Fehlen der jungen Frau an ihrem Stand auffiel, und ich somit bei meinen Untersuchungen gestört werden würde.
Soweit ich es aus meiner Erfahrung als Nichtmediziner beurteilen konnte, schien mir eher ein Rasiermesser, wie man es früher in Rasiersalons und bei Friseuren benutzte, oder auch ein Skalpell infrage zu kommen. Der Schnitt war schnell und fachmännisch gesetzt worden. Die Schnittführung verlief von oben nach unten. Da es sich um den linken Unterarm handelte und die Linie etwas bogenförmig von oben nach unten den Arm entlang mit einer leichten Rechtsbiegung zum Daumen hin verlief, die Tiefe von oben nach unten hin geringer wurde, was in der blutleeren Rinne nun gut erkennbar war, musste jemand den Arm von vorn links neben ihr stehend gehalten haben, um dann den Schnitt blitzschnell und gezielt zu platzieren.
Ungewöhnlich war, dass der Täter zwar den Anschein des Selbstmordes erweckte, aber zugleich durch die offensichtlichen Widersprüche in Kauf nahm, dass die Selbstmordannahme zugleich unglaubwürdig wurde. Daraus konnte man nur schließen, dass es für ihn die Hauptsache war, seine Identität nicht durch zurückgelassene Spuren zu verraten. Leider hatte ich nicht die Hilfsmittel, um nach Fingerabdrücken zu suchen, das würde hier auf fremdem Terrain auch zu weit gehen, ich würde mich strafbar machen. Sowieso hatte ich bereits meine Kompetenzen weit überschritten, hätte ich doch sofort die Polizei verständigen müssen.
„Alors, que faites-vous içi?“ (Also, was machen Sie hier?)
Eine Frau, die ich in der Hektik des nun einsetzenden Geschehens nicht erkennen konnte, war, von mir unbemerkt, hinter meinem Rücken eingetreten, und als sie nun die Tragik der Situation zu erkennen glaubte, diese aber falsch deutete, schrie sie sofort in allerhöchsten Tönen und polterte Hals über Kopf die Treppe wieder hinunter.
Ich sah keinen Grund, nun die Flucht anzutreten.
Es dauerte wohl an die zwei bis drei Minuten, bis drei Männer, in einem davon erkannte ich den Wirt der Bar Cap Canaille von nebenan, schnellen Schrittes die Treppe emporkamen, bei dem sich bietenden Anblick in der Tür stehen blieben und angesichts der gefassten Ruhe, mit der ich ihnen entgegentrat, merkten, dass sie nicht einen gerade ertappten Mörder vor sich haben konnten.
„Sie haben sie gefunden?“ fragte der Wirt, der mich kurz zuvor noch bedient hatte.
„Ja, sie ist, wie es aussieht, bereits seit einer Weile tot“, gab ich zurück.
Ich trat an eines der Fenster und sah vor dem Haus eine Menschenmenge. Die Frau, die zuvor Zeter und Mordio geschrien hatte, redete aufgeregt und fuchtelte mit Armen und Beinen.
Einer der drei Männer beugte sich über die Tote, um zu sehen, ob sie nicht vielleicht doch noch lebte. So ist es oft: Wir wollen das Unfassbare nicht fassen und dem Unglaublichen immer noch entgegentreten!
„Ne pas toucher!“ (Nicht anrühren!) befahl ich in strengem, geübtem Ton, worauf ersterer davon abließ.
Der dritte zückte sein Handy, um den Notruf abzusetzen.
Dann sagte er: „Ich glaube, Sie müssen jetzt hierbleiben, Monsieur. Man wird Sie befragen.“
Natürlich konnte und wollte ich nun nicht fortlaufen. Unversehens war ich zum Zeugen geworden. Ich musste mich in das Unvermeidbare fügen, wenn die drei mir nur dem Mob vom Leibe hielten, denn die Menschen auf der Straße vor dem Haus forderten nun im Sprechchor, ich solle herauskommen. Offenbar hatte die Frau, die mich vor der Leiche mit all dem vielen Blut knien sah, ihnen gesagt, „der Mörder“ sei noch dort oben.
Ich nahm also in einem Sessel Platz, der vor einem der beiden Fenster stand, den Blick zur Tür gewandt, um auf das Eintreffen der Polizei zu warten. Da saß ich nun und war bedacht, mein Gesicht nicht der aufgebrachten Menge zu zeigen, konnte ich ihnen doch nicht das Gegenteil ihrer Annahme beweisen.
Die Brillenverkäuferin war allseits bekannt und beliebt. Auch die ständigen Bewohner von Cassis kamen an ihrem Stand immer wieder vorbei. Sie verstand es, ihr Geschäft mit persönlichen Bindungen zu verknüpfen. Eine Sonnen-brille brauchte schließlich jeder einmal. Wenn man zum Beispiel verreiste, Besuche machte, war es immer ein schönes und preiswertes Mitbringsel, vor allem, weil es Mengenrabatt für mehrere gekaufte Brillen gab, den sie großzügig gewährte.
Da saß ich nun und wartete, und ich war mir vollkommen sicher, dass sich das Missverständnis schnell aufklären würde. Ich fühlte mich bar jeden Verdachtes. Natürlich musste man mich, der ich die Leiche gefunden hatte, vernehmen. Das war eine lästige Zeitvergeudung, vor allem vom Zweck meines Urlaubs gesehen. Aber das hatte ich nun davon, wenn ich meine Nase überall hineinsteckte!
Der Wirt kam herein und sagte erklärend, die Polizei sei sehr beschäftigt an diesem besonderen Tag. Alle seien im Einsatz. Sicherheitsvorkehrungen, weil irgendein hohes Tier zum Nationalfeiertag den Ort besuchte.
Außerdem hätte jemand auf der Straße erzählt, es habe gerade eine Familientragödie in einer anderen Straße gegeben, wozu alle verfügbaren Gendarmen angerückt seien, um zu schlichten und die Straße abzuriegeln.
Ja, die Toten können warten!
Allmählich überkam mich das Gefühl, nun hier in der Falle zu sitzen. War ich ein Gefangener der Umstände, in die ich mich selbst begeben hatte?
Ich musste nun unaufhörlich die Tote betrachten, mein Blick konnte keine andere Richtung finden: Da lag sie vor mir, die bloße Hülle der jungen Frau, die eben noch mitten im Leben stand. Unversehens war sie hinübergegangen in das Reich der Toten.
Es war für mich eindeutig ein kaltblütiger Mord. Der Mörder hatte seine Tat überlegt und planvoll ausgeführt. Ich war schon so oft mit dem Tod in Berührung gekommen. Doch hier war plötzlich alles anders. Es war kein ’Fall‘, kein Ermittlungsvorgang der üblichen Art. Ich fühlte mich direkt involviert, hineingezogen in etwas, das mich ereilte, hilflos machte, etwas, das ich nicht wie sonst gewohnt lenken oder zumindest beeinflussen konnte.
Wer hatte die Grausamkeit, dieses junge Leben so erbarmungslos und auf bestialische Weise auszulöschen?
Die Minuten waren wie Stunden.
Ich starrte hinüber.
Die Blutlache war schon zu einem dunkelroten See geronnen, der zunehmend erstarrte und mir nun, je länger ich hinsah, wie ein erloschenes Lavafeld vorkam.
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