Peter Berg

Ein Sommer in Cassis


Скачать книгу

Zeit, wo die Fischer von ihren Fangfahrten zurückkehren. War sie vielleicht mit einem Fischerboot mitgefahren? Vielleicht hatte sie einen Freund unter den Fischern, der sie einmal mitgenommen hatte, - eine romantische Liebesaffäre an Bord mit tragischem Ausgang?

      Man müsste auf jeden Fall mit den Fischern sprechen, deren Zahl überschaubar schien. Der herbeigerufene Doktor hatte den Tod durch Ertrinken attestiert. Aber Genaueres hätte die gerichtsmedizinische Untersuchung und eventuell eine Obduktion abzuklären.

      Vieles sprach für ein Gewaltverbrechen, das zerrissene Kleid zum Beispiel. Möglich schien mir ein sexuell motiviertes Tötungsdelikt, auch hierzu könnte die gerichtsmedizinische Untersuchung näheren Aufschluss bringen. Hatte kurz zuvor ein Intimverkehr stattgefunden?

      Was hatte der Spitzen-BH in der Handtasche verloren?

      Ich ging davon aus, dass die angespülte Tasche tatsächlich der Toten gehörte. Nun ärgerte ich mich, dass ich sie nicht Catherine gezeigt, sie nur an ihr vorbei auf mein Zimmer getragen hatte. Sie hätte diese wahrscheinlich identifizieren können. Aber die Initialen ‚I.V.‘ auf dem Taschentuch sprachen dafür: Isabelle V. Wofür das V. stand, wäre noch zu klären. Wer, wenn nicht die junge Frau selbst, sollte den BH in die Tasche gesteckt haben?

      Der Fundort der Tasche im Wasser nahe der Hafeneinfahrt lag etwa dreißig Meter vom Fundort der Leiche entfernt. Die Wasserströmung war hier an diesem Morgen ruhig. Zu dieser Zeit gab es auch noch kaum Bootsverkehr. Die Touristenboote begannen erst gegen zehn Uhr mit den Fahrten zu den Calanques. So stand für mich fest, dass die Tasche auf der Fahrt eines Bootes oder einer Jacht in den Hafen von Bord gefallen war. Ihr Fundort lag zu weit vom Fundort der Leiche entfernt, als dass man annehmen konnte, dass beide gleichzeitig ins Wasser kamen. Möglich, dass sich ein Drama an Bord abspielte. Das Kleid wurde zerrissen, das Mädchen ging über Bord, die Tasche wurde ins Wasser entsorgt.

      Dabei fiel mir siedend heiß ein, dass ich gestern das zerknüllte und wasserdurchtränkte Papier in meinem Zimmer aus der Tasche genommen und zum Trocknen vorsichtig geglättet, auf einem Handtuch in meinem Zimmer ausgebreitet und dann das ganze Paket auf dem Schrank deponiert hatte. Das war mir ganz entfallen. Auch auf der Polizeistation hatte ich nichts von dem Papier erwähnt. Ich eilte auf mein Zimmer, um nachzusehen.

      Die beiden Zimmermädchen waren gerade dabei, das Bett zu richten und im Bad zu scheuern. Sie freuten sich immer, wenn eines der Zimmer schon früher als die anderen frei war und sie ihre Arbeit beginnen konnten.

      Ich ließ mich durch ihre Anwesenheit nicht von meinem Vorhaben abbringen, stieg auf einen Stuhl und holte das Handtuch mit den gut getrockneten Papierfetzen herunter. Auf dem Tisch strich ich sie glatt und fügte die drei Stücke zusammen. Dann las ich.

      Es war äußerst schwierig, Zusammenhänge zu entziffern. Das Papier stammte offenbar aus einem Kalender und trug das Datum des zwölften Juli, das Datum von vorgestern. Sie musste das aktuelle Blatt herausgertrennt und beschriftet haben. Irgendwann hatte sie es dann zerrissen und zusammengeknüllt in ihre Tasche gesteckt. Es schien eine Art Brief zu sein, den der Adressat, der nicht genannt wurde, wohl nie erhalten hatte. Irgendetwas hatte sie davon abgehalten, den Brief zu übergeben. Sie hatte ihn stattdessen für nichtig erklärt, ihn zerrissen und zusammengeknüllt. Beim Zerreißen in vier Teile war eines, das rechte untere, verloren gegangen. Die Mitteilung war unvollständig. Was stand darauf? In einer noch wenig entwickelten, aber ordentlich geführten, weiblichen Handschrift standen, mit einem durch das Wasser nur schwach lesbar gewordenen blauen Kugelschreiber einige wenige Sätze auf dem Papier. Ich gab mir große Mühe, sie zu entziffern. Ich schaltete die Nachttischlampe an meinem Bett an, um den Zettel gegen das Licht zu halten. Als die Zimmermädchen, die ihrerseits gemerkt hatten, dass sie störten, den Raum endlich verließen, setzte ich mich auf das Bett und begann, die Schrift Satz für Satz in mein Tagebuch abzuschreiben. Dann versuchte ich, den Sinn zu verstehen und es mir zu übersetzen:

       Mein geliebter Freund, du weißt, dass ich alles für dich tue, was du begehrst. Aber du solltest meine Liebe nicht zu sehr auf die Probe stellen.

       Ein neues Leben hast du mir versprochen, wann löst du dieses Versprechen ein? Ich werde…

      An dieser Stelle fehlte ein Stück der Fortsetzung des Satzes auf der rechten, unteren Hälfte des Papiers. Links darunter standen die Worte:

      Wenn du mir nicht versprichst,

      Dann fehlte wieder die Fortsetzung, um schließlich links unten zu enden mit:

       In Liebe, Deine…

      Die Unterschrift fehlte wieder.

      Mit einem Klebestreifen, den ich zufällig im Koffer hatte, weil ich das lockere Glas einer alten Lesebrille, die ich nicht fortwerfen wollte, mit einem Tesastreifen notdürftig repariert hatte, fügte ich die drei vorhandenen Schnipsel provisorisch zusammen und legte das Blatt in mein Tagebuch. Dann ging ich zurück zu meinem Stammplatz vor dem Hotel, um noch einmal über den ‚Fall‘ nachzu-denken. Ich zündete eine Zigarette an und bestellte mir eines der in der Provence viel getrunkenen Anisgetränke. Dieser Schnaps wird durch das Aromatisieren von Ethylalkohol mit Sternanis und Fenchel gewonnen und mit einigen anderen, geheim gehaltenen Aromen verfeinert. Man trinkt ihn als Erfrischung mit Wasser und Eis gemischt.

      Ich zog das vorläufige Fazit meiner Ermittlungen:

      Gegen sechs Uhr dreißig fuhr die junge Kellnerin des ‚Hôtel du Port‘, Isabelle V., die abends in der Regel noch im Restaurant ‚Chez Gustave‘ kellnerierte, auf einem Boot in den Hafen der Ferienmetropole Cassis ein. Zu diesem Zeitpunkt trug sie ihren BH nicht, sondern hatte ihn in ihre Handtasche gesteckt.

      Ihr leichtes Sommerkleid wurde im Zuge der zu ermittelnden Ereignisse zerrissen. Die junge Frau führte keine Personaldokumente bei sich, wohl aber ihren Schlüsselbund. Des Weiteren hatte sie fünfhundert Euro in Hunderterscheinen in der Tasche, für eine junge Frau, die auf doppelten Broterwerb durch Kellnerieren angewiesen ist, eine recht hohe Summe. An Bord eines Bootes benötigt man um diese Tageszeit eigentlich kein Geld, es sei denn, man hätte es erst während des Bootsausfluges bekommen.

      Ich male mir in solchen Fällen das jeweilige Bild konkret aus, lasse es vor meinem inneren, geistigen Auge entstehen. Heute ist man bei der Kripo dazu übergegangen, die einzelnen Puzzleteilchen, die zur Lösung eines Falles führen können, auf einer Steckwand mit Fotos zu sortieren. Vielerorts werden die bekannten Details auch als Merkhilfe mittels digitaler Technik an eine Wand projiziert. Das bildhafte Vor-die-Augen-Führen ermöglicht es den Ermittlern, ihre Ergebnisse sukzessive zu sammeln und in Beziehung zueinander zu setzen. Das hat den Vorteil, dass alle, die an der Lösung des Falles arbeiten, zugleich beteiligt sind und ihrerseits den Fortgang verfolgen können, um neue Erkenntnisse und Vorschläge beizutragen.

      Seit jeher war es eine meiner Stärken, auf solche Hilfsmittel verzichten zu können. Als Eidetiker bin ich in der Lage, in bestimmten Situationen mein Vorstellungsvermögen auf das Wesentliche zu konzentrieren. Dabei stoße ich auf Details, die ansonsten leicht übersehen werden. So ging ich jetzt die Szene noch einmal durch:

      Das Boot fährt zu dieser frühen Morgenstunde in den Hafen ein. Isabelle steht an Deck, ihre Tasche hat sie umgehängt. Sie kennt jedes Haus, jede Ecke des Hafens, - dort kommt das Hotel in Sicht, in dem sie bald schon ihre Arbeit aufnehmen wird.

      Ist das Boot deshalb zu dieser Stunde eingelaufen, um ihren Arbeitsbeginn nicht zu verpassen? Umbringen hätte man sie doch auch anderswo können, wenn es geplant gewesen wäre. Also handelte es sich um einen ungeplanten Mord, eine tragische Verkettung von Ereignissen, die so von dem oder den Mördern nicht vorgesehen waren. War es gar ein Unfall?

      Was war mit ihrer Mutter, hatte sie auf die Tochter gewartet? Kam solches späte Heimkommen des Öfteren vor, oder war es wegen besonderer Ereignisse an diesem Tag ungewöhnlich? Wenn sie bis nachts kellneriert hatte, war sie wohl kaum zwischendurch noch bei der Mutter zuhause gewesen.

      Was sagte mir der Brief? Er offenbarte eine Liebesbeziehung zu einem Mann, dem sie sich in Hoffnungen ergeben hatte. Die junge Frau hatte seinen Versprechungen von einem besseren, sorgenfreieren Leben, das er ihr bieten wollte, geglaubt und sich dafür auf seine