Mark Terkessidis

Wessen Erinnerung zählt?


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      Mark Terkessidis

      Wessen Erinnerung zählt?

      Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute

      Hoffmann und Campe

      The privileged few, they never remember

      Dr. Alimantado

      Vorwort

      In kaum einem anderen Land spielen Fragen der Erinnerung eine so große Rolle wie in Deutschland. Das gigantische Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen hat dafür gesorgt, dass es keinen Weg um das Erinnern herum gibt. Die Fragen, wie erinnert werden soll, wer sich dazu äußern darf und in welcher Form Erinnerung überhaupt sinnvoll ist, werden in Deutschland mit manchmal qualvoller Ausführlichkeit diskutiert. Die verständliche Konzentration auf die Shoah hat dazu geführt, dass Debatten über Erinnerung selten andere historische Ereignisse oder Perioden berühren. Häufig wird die deutsche Geschichte unter dem Gesichtspunkt betrachtet, inwiefern sie etwas mit der Vorbereitung und Durchführung des Holocaust zu tun hatte. Das war im Hinblick auf die Dimension des Völkermords nachvollziehbar und gerechtfertigt. International jedoch spielen und spielten auch andere Phänomene und Perspektiven eine Rolle. In manchen europäischen Staaten steht der Erste Weltkrieg mit seinen Folgen mehr im Vordergrund. In den USA ist in den letzten Jahren viel über den transatlantischen Sklavenhandel diskutiert worden. Dabei ging es auch darum, wie heute mit den Denkmälern etwa von Generälen der Südstaaten umzugehen ist, die für den Erhalt der Sklaverei kämpften. Stimmen aus ehemals kolonisierten Ländern sowie Initiativen und Forschende im Westen haben die Verbrechen und die Nachwirkungen des Kolonialismus wieder auf die Agenda gesetzt. Und im Hinblick auf die Nazizeit tauchen die Erinnerungen von »vergessenen Opfern« auf, jenen etwa, die in Polen oder Griechenland vom Nazi-Terror gegen die Zivilbevölkerung betroffen waren.

      Mittlerweile wird auch in Deutschland der Raum der Erinnerung erweitert. So ist es auch in der Bundesrepublik vielen hartnäckigen Initiativen gelungen, das Thema Kolonialismus dem Vergessen zu entreißen. Bis vor kurzem erinnerte sich kaum jemand daran, dass das Deutsche Reich überseeische »Schutzgebiete« besaß, in Afrika (die heutigen Staaten Tansania, Ruanda, Burundi, Kamerun, Togo, Namibia sowie Teile einer ganzen Reihe anderer Staaten), im pazifischen Raum (etwa Samoa, Teile von Papua-Neuguinea oder Inselgruppen wie die Marianen) oder in China (Kiautschou). Diese Initiativen haben sich nicht nur für die Anerkennung des Völkermordes an den Herero und Nama im heutigen Namibia eingesetzt, sondern sie haben auch dafür gesorgt, dass über Straßennamen gesprochen wird, die ehemalige Kolonial-»Helden« ehren, oder über die Bestände von Museen, die aus der Kolonialzeit stammen. Auch über das »Humboldt-Forum«, das derzeit größte Museumsprojekt der Republik in der Mitte Berlins, wird unter (post-)kolonialen Aspekten heftig diskutiert. Im Koalitionsvertrag der CDU-SPD-Regierung von 2018 kommt das Thema Kolonialismus erstmals vor. Dort heißt es, zum »demokratischen Grundkonsens« gehöre neben der »Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft und der SED-Diktatur« auch die Beschäftigung mit »der deutschen Kolonialgeschichte«. Hingewiesen wird in dem Zusammenhang auch auf die größere Relevanz der Erinnerung an »weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus«: »Wir stärken in der Hauptstadt das Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten im Dialog mit den osteuropäischen Nachbarn.«

      Aus dieser erneuerten erinnerungspolitischen Perspektive lassen sich das Ende des Ersten Weltkriegs und der darauf folgende Vertrag von Versailles noch einmal neu betrachten. Gewöhnlich wird dieser Vertrag im Hinblick auf die Entstehung des Nationalsozialismus gelesen: »Versailles« war das harte Diktat der Siegermächte, insbesondere Frankreichs, das am Ende die Kräfte des Revanchismus gegen die noch schwache deutsche Demokratie gestärkt hatte. Doch der Vertrag besiegelte auch das Ende des deutschen Kolonialismus, denn das Deutsche Reich musste seinen überseeischen Besitz dem Mandat des neu gegründeten Völkerbundes unterstellen. Zudem wurde Elsass-Lothringen Frankreich zugesprochen, das Gebiet Eupen-Malmedy ging an Belgien, Nordschleswig an Dänemark. Auf Druck der Vereinigten Staaten entstand das erste Mal seit über 120 Jahren wieder ein tatsächlich unabhängiger polnischer Staat, die sogenannte Zweite Republik. Dafür wiederum musste Deutschland fast ganz Westpreußen, die Provinz Posen und kleine Teile Niederschlesiens abgeben. Die meisten Gebietsverluste lösten in der Bevölkerung keine nachhaltigen Reaktionen aus. Die Ausnahme bildeten die Territorien im Osten – sie spielten vor allem in der konservativen und später nationalsozialistischen Propaganda eine enorme Rolle. Die Forderung nach Rückgabe der überseeischen Kolonien wurde in der Weimarer Republik zwar pro forma aufrechterhalten, aber auf wirtschaftlicher Ebene gab es nur wenig Aktivitäten. Richtung Osten hingegen, zumal in Südost-Europa, arbeiteten die politische Klasse und die Wirtschaft weiter Hand in Hand an einer imperialistischen Ausdehnung.

      Wenn nun in der aktuellen Diskussion über Kolonialismus gesprochen wird, dann geht es gewöhnlich um die Besitzungen des Reiches in Afrika. Dieses Erinnern folgt, wie der kanadische Historiker Robert L. Nelson sagt, der sogenannten Salzwasser-Theorie: Hier gibt es das Mutterland, dort die Kolonie, und dazwischen befindet sich sehr viel Wasser. Daher scheint klar: Tansania oder Namibia sind als ehemalige Kolonien zu bezeichnen. Doch während die deutsche Herrschaft dort drei Jahrzehnte währte, waren Gebiete des heutigen Polen (Gebiete mit einer deutlichen polnischsprachigen Mehrheit) 150 Jahre entweder von Preußen oder später vom Deutschen Reich besetzt. In diesem Fall aber spricht niemand von Kolonialismus. Ebenso wenig werden die imperialen Bestrebungen in Südosteuropa und dem damaligen Osmanischen Reich in die Debatte um Erinnerung einbezogen, obwohl alles auf eine postkoloniale Beziehung hindeutet: Bemühungen um (ökonomische und kulturelle) Dominanz; die Aufbewahrung von erheblichen Teilen des kulturellen Erbes in Deutschland; brutale Besatzung in der Nazizeit und nach dem Zweiten Weltkrieg die Arbeitsmigration aus diesen Gebieten in die Bundesrepublik.

      Tatsächlich ähnelte sich die imperiale Betrachtungsweise der überseeischen und der europäischen Gebiete. In der postkolonialen Diskussion wird oft darauf hingewiesen, dass einer der wichtigsten deutschen Philosophen, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1822–1831) behauptete, der afrikanische Kontinent sei »kein geschichtlicher Weltteil«, er habe »keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen«. »Was wir eigentlich unter Afrika verstehen«, so Hegel weiter, »das ist das Geschichtslose und Unaufgeschlossene, das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist und das hier bloß an der Schwelle der Weltgeschichte vorgeführt werden mußte«. Allerdings klammerte Hegel in den gleichen Vorlesungen auch die »slawische Nation« im Osten von jeder Geschichtlichkeit aus: »Dennoch aber bleibt diese ganze Masse aus unserer Betrachtung ausgeschlossen, weil sie bisher nicht als ein selbständiges Moment in der Reihe der Gestaltungen der Vernunft in der Welt aufgetreten ist.« Der »Geist« herrscht nach Hegel nur im Westen.

      Postkolonialismus war ein neues Konzept in den 1990er Jahren, um die westliche Hegemonie zu hinterfragen. Es ging darum, die verflochtenen Geschichten von Kolonisatoren und Kolonisierten zu beschreiben und über die Konsequenzen des imperialen Systems in der Globalisierung und der Migration zu sprechen. Die Geschichte, meinte der Literaturwissenschaftler Edward Said in seinem Buch Kultur und Imperialismus, ließ sich eben nicht nur vom Westen her erzählen. Ebenso wenig aber reichte es, die Geschichte als Befreiung vom Westen (in der Entkolonisierung) zu betrachten. Es ginge, so Said, um »sich überschneidende Territorien«. Ohne Deutschland lässt sich also keine Geschichte Ostafrikas, Polens oder des Balkans schreiben, aber ohne Ostafrika, Polen oder den Balkan auch keine Geschichte Deutschlands. Die deutsche Kolonialgeschichte ist anders verlaufen als jene Spaniens, Portugals, Frankreichs oder Englands. Sie ist widersprüchlicher, beinhaltet viele Phantasien und niemals ausgeführte Pläne und lässt sich nicht linear erzählen. Aber diese Geschichte beginnt bereits mit den »Entdeckungen« im 15. Jahrhundert.

      Heute existiert zu vielen Staaten ein Verhältnis, das als postkolonial oder postimperial bezeichnet werden kann. Die Migration aus solchen Staaten hat dazu geführt, dass Erinnerungen aus anderen Kontexten mehr und mehr eine Rolle bei »uns« spielen. In Sachen Kolonialismus waren es häufig – mit Rückenwind aus den Vereinigten Staaten – schwarze Menschen in Deutschland oder »People of Color«, die die jüngsten Debatten angestoßen haben. Zugleich hat die »Flüchtlingskrise« gezeigt, wie sehr der »Export-Europameister« mittendrin in den Konflikten der Welt ist. Die meisten dieser Konflikte