der Debatte über die koloniale Vergangenheit geht auch eine Debatte über Rassismus einher. Das haben nicht zuletzt die Reaktionen auf den Hashtag »#MeTwo« 2018 gezeigt. Der war initiiert worden, nachdem der Fußballspieler Mesut Özil dem Deutschen Fußballbund Rassismus vorgeworfen hatte. Unter diesem Hashtag berichteten dann viele Personen über ihre alltäglichen Ausgrenzungserlebnisse. Früher wurde das Wort »Rassismus« in Deutschland ungern verwendet, weil es zu sehr an die Zeit des Nationalsozialismus erinnerte. Doch Begriffe wie »Ausländerfeindlichkeit« oder »Fremdenfeindlichkeit«, die als Behelfskonstruktionen dienten, erscheinen heute kaum noch angemessen. Ich erinnere mich daran, wie ich 2013 von einer Presseagentur zum Thema Rassismus angerufen wurde. Es ging um einen Streit in der FDP, um Bemerkungen des FDP-Fraktionschefs im Bundestag und des Landesvorsitzenden der FDP Hessen über den Parteikollegen Philipp Rösler. Beide hatten die vietnamesische Herkunft Röslers in abwertender Weise ins Spiel gebracht. Nun war die Frage, ob das als Rassismus bezeichnet werden könne. Meine Antwort lautete Ja. Zu jenem Zeitpunkt war Philipp Rösler der deutsche Vizekanzler, und der deutsche Vizekanzler kann per se weder Ausländer noch Fremder sein. Wie also sollte das Phänomen anders bezeichnet werden? Rassismus hat heute nicht mehr zwangsläufig etwas mit Biologie oder »Rasse« zu tun. In diesem Buch wird dafür plädiert, über ein strukturelles Problem zu sprechen, das Rassismus heißt. Imperiale Ausdehnung und Kolonialherrschaft gehören zur Geschichte des Rassismus, und ebenso haben diese historischen Herrschaftsformen immer noch Auswirkungen darauf, wie Rassismus heute funktioniert.
Das Thema Postkolonialismus beschäftigt mich seit den 1990er Jahren. Die englischsprachige Theorie jener Jahre erschien uns in Deutschland sehr avanciert und gleichzeitig auch nützlich für eine deutsche Gesellschaft im Umbruch. Ich habe damals die wichtigen Werke dieser Theorie wie etwa Edward Saids Kultur und Imperialismus oder Homi Bhabhas Die Verortung der Kultur für Zeitungen wie Die Zeit oder die tageszeitung besprochen. 1998 erschien mein erstes Buch über Rassismus, damals in Deutschland noch ein extrem kontroverser Begriff, in dem die Kolonialgeschichte eine große Rolle spielte. Im gleichen Jahr habe ich mit der Amerikanistin Ruth Mayer den Sammelband Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur herausgegeben. Darin ging es um den »kolonialistischen Blick«, aber auch um die öffentliche Wahrnehmung der ehemaligen deutschen Kolonien in Übersee. Ich habe in diversen Texten versucht, postkoloniale Ideen für die Diskussion über die deutsche Einwanderungsgesellschaft in Deutschland nutzbar zu machen. In späteren Arbeiten ging es auch schon um die Frage, warum postkoloniale Theorie immer nur in Bezug auf Übersee eine Rolle spielen muss.
In den späten 1990er Jahren war ich Mitgründer und Aktivist bei einer Gruppe mit dem Namen »Kanak Attak«. Die nahm eine rassistische Beschimpfung auf und drehte sie selbstbewusst ins Positive. Die Aktiven zumal aus der »zweiten Generation« wollten die Frage der Repräsentation auf die Tagesordnung setzen, denn damals galten Eingewanderte und ihre Nachfahren noch als »Ausländer«: Sie durften weder ernsthaft mitbestimmen noch im öffentlichen Gespräch überhaupt mitreden. In Köln, wo ich zu der Zeit lebte, arbeitete ein Teil des Netzwerks an einem Filmprojekt namens Kanak TV. Damals war ein Geflüchteter aus der ehemaligen Kolonie Kamerun zur Gruppe gestoßen, und unser Anliegen wurde es, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Kolonialperiode und den aktuellen Formen der Migration. Unseren Filmen über Themen wie Weißes Ghetto oder das Märchen von der Integration folgte 2005 eine längere Doku mit dem Titel Recolonize Cologne, die sich mit der Geschichte und den Folgen des deutschen Kolonialismus beschäftigte.
Allerdings war das Thema zu der Zeit noch sehr marginal. Dritte-Welt-Gruppen befassten sich damit oder Leute aus entwicklungspolitischen Zusammenhängen – aus diesen Kreisen hatte es bereits in den 1980er Jahren Proteste gegen bestimmte Denkmäler oder Straßennamen gegeben. In der westdeutschen historischen Forschung war Kolonialismus ein Randphänomen (wenige Personen wie Horst Gründer oder Henning Melber arbeiteten kontinuierlich dazu). In der DDR hatte es eindrucksvolle Arbeiten zum Thema gegeben, doch die entsprechenden Lehrstühle und Institute waren nach der »Wende« ohne Rücksicht auf ihre Qualität abgewickelt worden. In der Öffentlichkeit spielte das Thema gar keine Rolle. In der Folge habe ich mich mehr auf Rassismus generell und die Konsequenzen der Migration in Deutschland konzentriert. An den Universitäten machten postkoloniale Ideen aber eine ziemliche Karriere – in einer ganzen Reihe von Disziplinen, von den Sozial- bis zu den Geschichtswissenschaften. Derweil hat die jüngere deutsche Historikergeneration um Jürgen Zimmerer, Birthe Kundrus, Ulrich von der Heydt, Joachim Zeller oder Sebastian Conrad die Forschungslage dramatisch verbessert. Und die Aktiven haben dafür gesorgt, dass das Thema wieder auf der öffentlichen Agenda angekommen ist.
Während der Arbeit an diesem Buch ist meine Mutter gestorben. Sie war 1924 im rheinländischen Eschweiler auf die Welt gekommen und hatte die Zeit des Nationalsozialismus als Kind und Jugendliche erlebt. Meine Mutter hatte immer ihre eigene Form der »Vergangenheitsbewältigung«. Während andere verschämt behaupteten, sie hätten nichts gewusst vom Holocaust, sprach meine Mutter offen darüber. Alle hätten es doch mitbekommen, meinte sie, wie die Juden zunächst immer mehr verschwanden und dann, im letzten Kriegsjahr, vor dem Abtransport interniert wurden. Sie erzählte auch, dass meine Oma – viele andere Familien machten es mit ihren Minderjährigen ähnlich – sie nach der Internierung losschickte, um den hungernden Menschen über den Zaun hinweg Brot zuzuwerfen. Ihre Großmutter und ihre Mutter hatten vor dem Krieg ein kleines Nähstudio besessen und vor allem für Textilgeschäfte mit jüdischen Inhabern gearbeitet. Trude war sicher keine Widerständlerin. Sie konnte plötzlich etwas »entartet« nennen, weil man das Wort halt in ihrer Kindheit verwendet hatte. Aber es blieb ihr das ganze Leben lang ein Rätsel, wie Leute auf die Idee hatten kommen können, systematisch die Nachbarn umzubringen. Sie entschuldigte sich bei den ansässigen Roma-Familien, die sie gut kannte und die nach dem Krieg wieder nach Eschweiler zurückgekehrt waren. Ihr Willen, über alles zu sprechen, ging ziemlich weit. Als ich mich als Jugendlicher brennend für die Nazi-Zeit interessierte und mehr über die SS wissen wollte, meinte sie, sie könne da nicht viel zu sagen, aber sie kenne da einen. Einige Tage später saß ein ehemaliger SS-Mann bei mir im Zimmer und fragte mich, was ich denn wissen wollte. Er war keiner von den »Schlimmeren«, wie sie meinte, aber es reichte, dass ich zur Salzsäule erstarrte.
In meiner Familie wurde oft gestritten. Innerfamiliär dominierte meine Mutter mit ihren Erinnerungen an den Krieg, aber mein Vater, der aus Griechenland eingewandert war und die Deutschen als Besatzer erlebt hatte, konterte passiv-aggressiv. Wenn meine Mutter davon sprach, wie schlimm es gewesen sei, dass meine Großmutter und sie in der Evakuierung hätten hungern müssen, knurrte mein Vater nur, sie hätten doch nur ein paar Wochen Hunger gehabt. Sie wüsste ja gar nicht, wie das wäre, wenn es jahrelang nicht genug zu essen gäbe. Oder wie es ausgesehen habe, als auf den Straßen von Athen die Leichen der Hungertoten gelegen hätten. Der familiäre Raum war stets ein Schlachtfeld der Erinnerung, von konkurrierenden Erinnerungen. Aber immerhin hat die Ehe meiner Eltern, eine große Liebe, über fünfzig Jahre bis zum Tod meiner Mutter gehalten. Vielleicht gibt mir das eine gewisse Zuversicht im Hinblick darauf, dass eine Gesellschaft mit Verantwortung für vergangenes Unrecht und mit unterschiedlichen und gar konkurrierenden Erinnerungen umgehen kann, ohne dabei auseinanderzufallen. Die Voraussetzung aber ist ein offener Umgang mit vergangenen und aktuellen Ungerechtigkeiten, ein Umgang, der nicht für schlechtes Gewissen sorgt, sondern für echten Wandel. Stolz können wir dann sein, wenn unsere Gesellschaft morgen demokratischer ist als heute.
Kapitel 1 Auf den Spuren von Kolumbus
Deutsche Kaufleute erobern Amerika
Wenn in der Öffentlichkeit über die deutsche Kolonialgeschichte gesprochen wird, dann erscheint als Ausgangspunkt gewöhnlich das späte 19. Jahrhundert – der Zeitpunkt, als das Deutsche Reich begann, Gebiete in Übersee in Besitz zu nehmen. Doch die Beteiligung von Deutschen an der europäischen Expansion geht viel weiter zurück, bis ins Zeitalter der sogenannten Entdeckungen im 15. und 16. Jahrhundert. Im Geschichtsunterricht werden die Familien Fugger und Welser aus Augsburg als Kaufleute und Finanziers präsentiert, die bereits zu jener Zeit mit ihren zahlreichen Geschäften in der ganzen Welt agierten. Im Jahr 2014 eröffnete in Augsburg erstmals ein Museum zu den beiden Dynastien. Im Flyer des Hauses wird ein »Erlebnis« von Augsburgs »goldener Zeit« versprochen, einer