Krankenhaus fast auf dem Weg.“ Jule nickte ergeben.
Mit Enzo auf dem Rücksitz und daneben Christines Trachtenkollektion der letzten fünf Jahrzehnte machten sie sich noch einmal auf in Richtung Krankenhaus. Enzo war schrecklich aufgedreht und redete ununterbrochen. Auch nüchtern war er anstrengend. Er hoffte, alles richtig zu machen und war glücklich, dass sein Neffe den Besuch in München zumindest überlebt hatte. Er würde sich keine Vorwürfe machen müssen, sein Bruder in Italien war auch recht zuversichtlich, seine Schwägerin – übrigens Lorenzos Mutter – hatte ihm per SMS mindestens 200 wertvolle Tipps zur Nachbehandlung übermittelt, und Enzo betete sie alle noch einmal herunter. Vermutlich war er einfach nur froh, jemanden zum Reden zu haben.
Jule schaltete auf Durchzug, schließlich musste sie sich aufs Fahren konzentrieren und hoffte inständig, dass sie Enzo wenigstens an diesem Morgen einfach an der Krankenhauspforte abgeben konnten. Italiener-Wochenende hin oder her, Enzo und Lorenzo gingen ihr schon ein wenig auf die Nerven, sie war doch kein Taxi! Damit nämlich, hatte Enzo ihnen versprochen, würde er mit seinem Schützling wieder heimfahren.
Und noch einmal hatte sie die Rechnung ohne ihre Cousine gemacht. Das wurde langsam zur Gewohnheit. Vero nämlich versprach Enzo gerade, ihn zu seinem Neffen zu begleiten, um ihn persönlich zu begrüßen und um herauszufinden, ob man vielleicht einen Laborbefund des Patienten hatte. Ob sie es heute wohl zur Wiesn schaffen würden?
***
Vor Lorenzos Zimmertür erwartete sie dann noch eine weitere Überraschung. Von der anderen Seite des Gangs kam ihnen Dr. Russo entgegen. Enzo stürzte gleich auf ihn zu, nahm sein Gesicht in beide Hände und überschüttete ihn mit einem Wortschwall. Ein Messias konnte nicht überschwänglicher begrüßt werden. Als Dr. Russo endlich dazu kam, zu antworten, ließ Enzo dankenswerterweise von ihm ab, stoppte seinen Redefluss aber nicht. Den Arzt schien das nicht zu stören, er hörte einfach nicht mehr hin, sondern begrüßte Vero und Jule mit Handschlag sowie einem müden Blick.
„Mein Gott, sind Sie schon wieder hier?!“, rutschte es Vero heraus.
„Nicht schon wieder, sondern immer noch …“, grinste Dr. Russo mühsam.
„Ach, Sie Ärmster!“
Er lächelte und winkte ab. „Danke, danke. So schlimm war es aber nicht, ich habe ja nicht durchgearbeitet. Ich hatte noch einen Notfall bis dreiviertel vier, danach habe ich mich hingelegt und die Kollegen haben mich netterweise bis sechs schlafen lassen. Jetzt wollte ich nach Lorenzo schauen und fahre dann heim. Wenn Sie nicht drauf bestehen, kann ich die beiden auch heimfahren. Passt das?“
„Oh, ja! Passt sehr gut. Wir wollen noch Dirndlkleider probieren und müssen ein paar Dinge erledigen. Das käme uns also ganz gelegen …“, erklärte Jule schnell, bevor Vero noch irgendetwas einfiel.
„Ah ja, hm. Enzo! Andiamo! Lorenzo ist nämlich soweit fertig. Sie können Guten Tag sagen, wenn Sie wollen.“ Er öffnete die Tür und ließ sie eintreten.
„Ja super!“ rief Vero. „Aber sagen Sie, gibt es inzwischen einen Laborbefund?“
Dr. Russo-Plüschauge drehte sich in der Tür um. „Also, wir wissen ziemlich genau, welche Substanzen er im Körper hatte, aber nicht, wie er das genau zu sich genommen hat. Es gibt da mehrere Möglichkeiten.“ Entweder war er schwer gestresst und nicht besonders ausgeschlafen oder er hatte keine Lust, detaillierte Auskunft zu geben. Dachte er etwa, sie wüssten mehr?
Vero zuckte nicht ganz überzeugt mit den Schultern und fragte: „Ist das wirklich okay, wenn Sie ihn mitnehmen?“
„Passt schon, ich lade mich bei meiner Mutter zum Essen ein, die wohnt nicht weit von dort.“ Es folgten ein paar Sätze Italienisch, die offenbar für Enzo bestimmt waren. Ein kurzes Nicken zu Vero und Jule, dann macht er auf dem Absatz kehrt und verschwand grußlos.
Jule schauten ihre Cousine an, aber auch Vero zuckte ratlos mit den Schultern.
„Wenn ich mal übersetzen darf“, schaltete sich eine Stimme vom Krankenbett ein. „Der dottore holt jetzt sein Zeugl, derweil ich mi’ hier z’ammpack. Und dann treffen wir uns unten am Eingang.“
Jule fuhr herum. Lorenzo. Oha, der war ja wach und wieder bei Sinnen! Ein bisschen müde sah auch er allerdings aus. Und unrasiert und ungekämmt. Er lächelte etwas angestrengt. „Ciao Giulia! So sieht man sich wieder. – Ich hatt’ mir das a bisserl würdevoller vorgestellt …“
Komplett vergessen hatte er sie also nicht. Auch nicht, dass er die italienische Form ihres Namens von seinem Onkel übernommen hatte, obwohl sie ihre Mails immer mit „Jule“ unterschrieben hatte.
„Danke, dass ihr den Krankenwagen gerufen habt.“
„Ja. Hallo, Lorenzo, schön dich zu sehen.“ Vero fiel ihm lachend um den Hals. „Mensch, das ist ja ewig her!“
Lorenzo küsste sie vorsichtig auf beide Wangen. „Verrronica! Ciao, come stai?“
Statt zu antworten baute sie sich vor ihm auf und sah ihn prüfend an. „Sag mal: Was hast du gegessen?“, fragte sie streng.
„Ist das ein Verhör?“
„So ungefähr. Ich will wissen, was du gegessen hast.“
Er verzog enttäuscht das Gesicht. „Ich hatte gehofft, ihr würdet euch Sorgen um mich machen … Und die Frage habe ich heute schon mal gehört, ihr seid ja nicht meine ersten Besucher. Die Polizei war auch schon bei mir. Die Sanitäter haben denen scheint’s erzählt, da hätt’ sich jemand zugedröhnt, so wie ein anderer irgendwann zuvor. Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, was die Polizei will oder sucht - oder wen … Jedenfalls haben’s mir ned g’laubt, dass i ned woaß woher des Zeugl isch.“
Von unkontrollierten Dialektausbrüchen hatte der Arzt nichts erzählt. Lorenzo war in Bozen zu Hause, er hatte einen italienischen Vaer und eine südtiroler Mutter. Nach einer kurzen Pause war er wieder in der Lage einigermaßen verständlich zu sprechen. „Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe keine Erinnerungslücken, ich weiß ganz genau, was ich gestern gemacht und gegessen und gesagt habe – und wann. Auch von dem Trip weiß ich alles. War eine spezielle Erfahrung …“
„Warte. Nochmal Lorenzo: Was hast du gegessen und getrunken?“
„Also, ich habe Pasta gegessen, Spaghetti alio e olio und danach Tee getrunken. Kräutertee, ja? Koa Jagatee! Ich hab keine bunten Pillen geschluckt, und nichts von Leuten genommen, die ich nicht kenne.“ Er grinste. „Ich war ganz brav. Habe ich alles aber schon Luca erzählt.“
„Luca?“
„Dottor Luca Russo. Der junge Mann, der grad noch im blauen G‘wand hier herumgelaufen ist.“
„Ah, okay. Und wo hast du gegessen? Weißt du, wie das da hieß, wo das war?“
„Am Morgen war ich auf einem Termin, da habe ich caffé getrunken und gegessen … ein cornetto – also ein Croissant. Luca sagt aber, das ist egal, das wäre zu lange her. Die pasta am Nachmittag hab ich daheim gegessen! Also bei zio Enzo.“
„Und was war das für ein Tee?“
„Woaß ned. So a Teemischung halt. Roch gut, da habe ich’s aufgebrüht.“
„Beutel oder lose?“
„Was?“
Vero wurde ungeduldig „Lorenzo: War der Tee im Beutel, also industriell abgepackt, oder lose im Tütchen aus dem Teeladen?“
Er sah sie an und überlegte. „Weder noch. Aber das waren lose Blätter, in so einem Beutel, wie die, wo die Tante Traudl früher immer die Weihnachtskekse drin verpackt hatt‘. Kein Aufkleber vom Teeladen, sonst hätt’ ich ja gewusst, was des für a Sort’n isch.“ Er dachte weiter nach. „Aber mit so a‘m dunklen Bandl dran, sah recht stylisch aus. Meinst, des isch wichtig?“
„Also eher selbst gemischt. Oder umgefüllt. Vielleicht sind da Pestizide drin! Oder andere Giftstoffe!“
Lorenzo