Oliver Kyr

Meine Engel sind grün


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eigene Tochter, sie wird im kommenden Monat sechs, spricht mit „denen mit den Wurzeln“. Fragt um Erlaubnis, bevor sie auf knorrige, magische Bäume in Nicaragua oder Costa Rica klettert. Legt vorsichtig ihre kleine Kinderhand auf die raue Rinde, schließt die Augen und versucht sich zu verbinden. Dann, wenn der Baum „ja“ sagt, klettert sie los. Das wäre mir als Kind nie in den Sinn gekommen. Sie waren eben da, die Bäume. Und wuchsen vor sich hin, die Blumen und Sträucher und Gräser. Weil sie das eben so machten, und das hatte mit Oliver und seinem Leben nicht das Geringste zu tun. Mein eigener Vorname entstand aus dem Altgriechischen, hatte mir jemand erzählt:

      Der, der die Olivenbäume pflanzt.

      Damit konnte ich damals so richtig gar nichts anfangen - es ließ mich kalt. Hätte ich geahnt…

      Liebe Pflanzen, liebe Brüder und Schwestern, die ihr Wurzeln habt: Habt ihr es damals schon gewusst? Habt ihr den schwarzen Mercedes und den Chevrolet-Leichenwagen mit dem blubbernden V8 vorhergesehen? Die drei Herzinfarkte, den Tanz mit dem Tod? Habt ihr Berlin, Korinth und Mexiko geahnt? Die stürmischen Nächte mit Schamanen, die Gesänge aus alter Zeit?

      Ich glaube schon.

      2

      DER ENGEL DER SCHUBLADEN

      „Es ist“ kannst du wahrnehmen. „Es werde“ kannst du selbst erschaffen.

      1 Buch der Wyld Rose, 150

       Sie laden ihn ein, den kleinen Löwen. Fordern ihn auf, zu tanzen. Wedeln mit den wabernden Händen aus Licht, wirbeln wie Derwische im Kreis umher.

       „Komm“, wispern die Stimmen im Köpfchen des Löwenjungen, „komm, hab’ keine Angst.“

       Aber er hat Angst, der kleine Löwe, der ein Mann Ende 40 ist - aber heute Nacht, in dieser dunklen und zugleich so hellen Stunde, ein kleines zitterndes Löwenbaby.

       Er hat – eigentlich unbegründete, aber zugleich tiefe und fürchterliche - Angst vor der Wildheit der tanzenden Wesen. Angst vor dem Lachen, Angst vor dem reißenden Fluss des Lebens. Mit diesen Wilden zusammen tanzen gehen? Die Sicherheit des Schlafsacks an der Sofaecke aufgeben und hinübergehen? Sich verbinden mit der Meute dort?

       Das Löwchen klammert sich an eine Ecke des Sofas, zieht die Ränder des Schlafsacks über die Schultern und rollt sich zusammen. Bleibt am Rande des Geschehens. Zu furchtbar der Ausblick auf Gemeinsamkeit, aufs Einssein mit dem Leben.

      Aber nach und nach spürt es: Das wird er nicht mehr lange durchhalten: Zu verlockend, zu drängend ist er, der Ruf der „wilden Meute. Und sie werden nicht aufhören heute Nacht, werden nicht müde, es zu rufen und zu locken. Denn heute muss es sein - das spürt auch das Löwenjunge.

       Es zittert vor Angst. Aber warum? Sind sie gefährlich, die wild umher-tanzenden Wesen, die bunten Derwische, die funkelnd zu ihm herüber schauen?

       Nein.

       Werden sie ihn etwa… auffressen?

       Nein.

       Wird es sich verlieren in ihrem bunten Treiben und nie wieder zurückkommen?

       Für eine Weile, ja.

       Aber er wird ja der kleine Löwe bleiben…

      Und dann nimmt der kleine Löwe seinen ganzen Mut zusammen. Aus dem Löwenherzen, das ihm seine Eltern geschenkt haben, schöpft er die notwendige Kraft und setzt seine linke Vorderpfote ins Leben. Es ist schwer, so schwer zu vertrauen. Dem Leben zu vertrauen. Es tut so weh.

       Die Sicherheit des Schlafsacks verlassen, die Wärme, das Behagliche, Bekannte.

       Dann folgt die zweite Pfote. Wieder durchatmen, Kraft sammeln, aus dem Löwenherzen heraus handeln. Minuten vergehen, eine Viertel-, eine halbe Stunde.

       Pfote drei, dann vier. Das Löwenjunge steht nun mit zitternden Gliedern und wild klopfendem Herzen mittendrin: im Lebenl

       Es ist nur ein Teppich mit mexikanischen Mustern, aber in der Erfahrung heute Nacht ist es eben das, wovor er so Angst hatte, der Mann, der Löwe: das wilde Leben.

       Und siehe: es tut nicht weh.

       Er stirbt nicht daran.

       Es fühlt sich sogar gut an.

       Vielleicht hätte er all die ]ahre nicht so viel Angst haben sollen - vor dem Leben.

      Denn eigentlich ist er schon ein alter Löwe. Der nochmal jung werden musste, um endlich den entscheidenden Schritt zu wagen. Dem Leben bedingungslos zu vertrauen.

       Nicht nur in der Welt, sondern auch im Herzen.

       In dieser Nacht ist der alte Löwe, der der junge Löwe ist, ein klein bisschen stolz auf sich selbst.

       (Lektionen der Pflanzen. Bogotá, Kolumbien. April 2019)

      Ich war zwölf, als mir das Leben eine tiefe Wahrheit offenbarte, die ich natürlich erst sehr viel später wirklich verstand. Denn erst musste, nein: durfte ich sie erfahren. Am eigenen Leib, sozusagen im eigenem Herzen.

      „Das Leben“ hieß das Kapitel im Biologie-Buch mit dem glotzenden Frosch auf dem Buchdeckel. Und das Kapitel begann mit einem Bild:

      Eine weiße Tischfläche, von oben fotografiert. Auf dem Tisch hatte man eine Blechmaus mit schwarz eingefärbtem Laufrad fahren lassen. Daneben war eine lebendige Maus gelaufen, mit roter Farbe auf den Füßchen.

      Schwarz und schnurgerade war die Linie der Blechmaus, von Tischkante zu Tischkante. Unbeirrbar, straight ahead. Wie ein Lebenslauf, wenn man sich bei einer Bank bewirbt.

      Daneben lief die rote Spur, die sich kurz geradeaus, dann in vielen Windungen kreuz und quer über den Tisch verteilte - mändernd, verschwenderisch, scheinbar ziellos.

      Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Gerade? No, señor. Nicht wenn man das Leben fragt.

      Ein Fluss findet zielsicher ins Meer, zu seiner Bestimmung.

      Seit Jahrtausenden, Jahrmillionen. Der Fluss weiß, wie man dahin kommt. Und er folgt nicht einer geraden Linie (außer wir Menschen versuchen, Gott zu spielen, und das geht mit hässlicher Regelmäßigkeit schief).

       Foto: Auf dem Fluss mit der Fähre nach Hawaii (Guatemala)

      Der Fluss windet sich, bald hierhin, bald dorthin, schlägt Schleife um Schleife, zieht seine lustigen Muster ins Erdreich, spült sich durchs Leben. Und: Vater Fluss kommt immer an. Im großen Meer, wo wir alle uns eines Tages wiederñnden werden.

      Die rote Spur war mir zu wild, und so folgte ich – wie die brave Blechmaus und wie viele Menschen - dem vorgegebenen Pfad: Gute Noten in den Klassenarbeiten, brav wiederholt, was man mir vortrug und dafür mit Lob und ehrenhaftem Zeugnis belohnt.

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      Lob.

      Stolz.

      Schnurgerade zog sich die schwarze Linie über die Tischplatte. Ich machte, wie man so sagt, „alles richtig“.

      Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich sechs war. Es gab keinen offenen Streit, dessen Zeuge ich gewesen wäre. Die Trennung vollzog sich für mich und meine Schwester „friedlich“ (ich bin meinen Eltern sehr dankbar dafür).

      Und was an Stabilität fehlte (Papa ist nicht mehr da!), holte ich mir entlang der schwarzen Linie. Die Tischkante war weit weg, hinter dem Horizont, und links und rechts zogen