Carl Betze

...und schon bist Du Rassist!


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Can Dündar, einst Chefredakteur des Blattes, fordert ein „klares, mutiges Signal für die Demokratie in der Türkei“ von Deutschland und aus der Europäischen Union. „Seit Jahren sind die Europäer dauernd besorgt“, klagt er in einem Interview mit der „Welt“. Und ergänzt resigniert: „Aber das ändert nichts.“

      Auch als Erdogan am 14.Februar 2017 den Welt-Korrespondenten Deniz Yücel in den Knast sperren lässt, bleibt eine unmissverständliche Reaktion aus Berlin aus. „Bitter enttäuscht“ sei sie, betont Bundeskanzlerin Merkel, anstatt mit Vehemenz auf einer Freilassung des unter fadenscheinigen Umständen inhaftierten Journalisten zu insistieren. „Bitter enttäuscht“ - sonst kommt nichts.

      Noch drei Monate zuvor, bei ihrem letzten Besuch in Ankara, hat Merkel Erdogan ausdrücklich auf die überragende Bedeutung der Pressefreiheit und einen fairen Umgang mit den deutschen Korrespondenten am Bosporus hingewiesen. Die Antwort Erdogans ist es, Deniz Yücel ins Gefängnis werfen zu lassen.

      In den Medien wird die deutsche Bundeskanzlerin in jenen Monaten als „Witzfigur“ für die Despoten weltweit bezeichnet (25).

      Auch im Europa-Parlament kommt heftige Kritik an der Reaktion aus Berlin auf. Europaparlamentsvize Alexander Graf Lambsdorff (FDP) beklagt eine „Zaghaftigkeit der Bundesregierung, die es dabei belässt, ihrer Sorge wiederholt Ausdruck zu verleihen“. „Es muss völlig klar sein, dass ohne eine Kehrtwende in der Türkei Visumfreiheit und ein EU-Beitritt überhaupt nicht denkbar sind“ (26).

      Warum aber kuscht Angela Merkel vor dem türkischen Präsidenten? Warum reagiert Deutschland nicht auf die offensichtlichen Verfehlungen des Staatsoberhauptes vom Bosporus? Warum laviert Deutschland in der Frage, wie deutlich man angesichts der stets neuen Verstöße Erdogans gegen die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie reagieren möchte?

      Die Türkei hat als Markt für die EU massiv an Bedeutung gewonnen, sie kann als eines der wenigen Länder eine wachsende Bevölkerung aufweisen. Wirtschaftlich hat die EU ein enormes Interesse, eng mit der Türkei zusammenzuarbeiten, schließlich kann das Land als Markt qualifizierter Arbeitnehmer künftig eine hohe Bedeutung für Europa haben. Vor allem aber ist die Türkei in der Flüchtlingsfrage unverzichtbar geworden. Im Abkommen vom März 2016 vereinbaren die EU und die Türkei, dass Syrer in der Türkei bleiben und nicht etwa die Überfahrt nach Griechenland antreten. Dazu soll die Türkei ihre Grenzen nach Europa strenger kontrollieren. Syrische Flüchtlinge, die es von der Türkei aus aber auf die griechischen Ägäis-Inseln schaffen und dort kein Asyl bekommen, muss die Türkei zurücknehmen. Ohne das Abkommen würden noch mehr Syrer in die EU kommen können. In der Türkei leben Ende 2016 etwa 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge - das sind so viele Menschen, wie in Berlin wohnen. Außerdem ist der Krieg in Syrien nicht vorbei, und schon bald könnten sich mehrere Millionen Menschen auf den Weg nach Europa machen. Das erklärte Ziel Europas ist es nach wie vor, die Türkei in einen „Leuchtturm“ der Demokratie zu verwandeln, der weit in die islamische Welt hinein strahlt. Die Flüchtlingsströme nach Europa können auch dank eines Abkommens mit der Türkei eingegrenzt werden. Ein Frieden in Syrien, der eine Rückkehr der Flüchtlinge ermöglichen würde, ist ebenfalls nur gemeinsam mit der Türkei möglich. Europa ist abhängiger denn je von seinem östlichen Nachbarn. Man hat deshalb seitens der EU kein Interesse, diesbezügliche Gesprächsfäden durch zu harte Kritik abreißen zu lassen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich wohl auch die Art und Weise, in der die Europäische Union im Umgang mit der Türkei hadert. Zwar verurteilen Abgeordnete das Land regelmäßig mit harten Worten. Doch die Vertreter von Regierungen und Behörden halten sich zurück. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, Elmar Brok (CDU), tritt dafür ein, klare Botschaften nach Ankara zu senden. „Die EU ist nicht erpressbar, weil die Türkei aus wirtschaftlichen Gründen mindestens so viel Interesse an einer guten Beziehung zur EU hat wie umgekehrt“, sagt Brok der „Welt“ (27). Mag man über den „Casus Böhmermann“ noch streiten – die Stürmung der Redaktion der Zeitung Cumhuriyet und die Verhaftung Deniz Yücels hätten als Reaktion weit mehr als nur Enttäuschung gefordert. Auch, weil Deutschland objektiv in einer weit stärkeren Position ist, als es den Anschein hat. Die türkische Wirtschaft ist in einer kritischen Situation und braucht Unterstützung. Erdogan ist auf Investitionen aus der EU angewiesen. Angesichts der finanziellen Situation des Landes ist die Drohung mit der Aufkündigung des Flüchtlingspakts wenig glaubwürdig.

      Erdoğan kann sich einen Verzicht auf die Hilfsmilliarden aus Brüssel gar nicht erlauben (28).

      Eine entschlossene Europäische Union mit einem starken Deutschland könnte Erdogan die Stirn bieten. Aufgrund der Flüchtlingsproblematik jedoch, so scheint es, besteht daran kein Interesse. Somit ist Deutschland, ist die Europäische Union, ein Stück weit erpressbar. Es stellt sich die Frage, ob für die deutsche Kanzlerin und ihr Gefolge die Interessen Erdogans womöglich schwerer wiegen als die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit in Deutschland. Ob nicht die Flüchtlingspolitik missbraucht wird als staatliches Machtinstrument und Deutschland sich dies gefallen lässt.

      Die Bundesregierung muss in Fällen solch drastischer Rechtsverletzungen, wie sie unter dem Regime Erdogan an der Tagesordnung sind, nicht nur hadern, tadeln und mahnen, sondern mit wirtschaftlichen Sanktionen drohen. Das ist die einzige Sprache, die Leute wie Erdogan verstehen.

      Tut sie dies nicht, verliert sie nicht nur in Europa an Glaubwürdigkeit – sondern auch in der eigenen Bevölkerung.

      Auch innenpolitisch ist der Umgang mit der Flüchtlingskrise mitentscheidend für die Verteilung der Staatsmacht.

      Politiker treffen aus wahltaktischen Gründen dabei mitunter die falschen Entscheidungen. Staaten werden von Politikern geführt.

      Und Politiker benötigen Stimmen. So manchem Politiker ist daher das Hemd näher als die Hose: Richtig ist, was moralisch geboten ist, aber auch auf kurze Sicht Ergebnisse liefert – eventuellen negativen Auswirkungen zum Trotz.

      So wird auch die Flüchtlingspolitik bisweilen stark an der Stimmungslage der Wählerschaft ausgerichtet.

      Gerettete Flüchtlinge an die EU-Küste nach Lampedusa zu befördern, ist nicht nur ein humanitärer Akt, sondern dazu auch einer, der Stimmen bringt. Andererseits werden die langfristigen Folgen solcher Aktionen nicht immer berücksichtigt. Langfristig verantwortungsvoll wäre es, die Geflüchteten in ihre Heimat zurückzubringen und dort durch umfangreiche Hilfsprogramme für entsprechende Lebensbedingungen zu sorgen.

      Es bleibt zu hoffen, dass dieses Szenario in den machtpolitischen Erwägungen unserer obersten Entscheidungsträger die ihm gebührende Rolle spielt.

       08

       Ist das noch Willkommenskultur oder bereitsWillkommensfanatismus?

      Wir haben sie alle noch im Kopf, die Bilder vom Münchner Bahnhof im Herbst 2015: Dutzende Polizisten sind im Einsatz, Absperrbänder werden gespannt, Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr stehen bereit, Dixi-Klos werden herangeschafft, die Stadtwerke München haben Trinkwasserverteiler aufgestellt. Ausgelassene Menschen halten „Refugees welcome“-Schilder hoch, etliche von ihnen kommen mit Lebensmitteln, Wasser oder Babywindeln zum Bahnhof. An Tischen werden Äpfel, Bananen, Wasser und Müsliriegel verteilt. Auch Babynahrung, Milch und Kekse gibt es.

      Sogar Kartons mit Plüschtieren stehen am Vormittag bereit, viele Kinder halten später glücklich einen Stoffbären in ihren Händen.

      Mit verklärten Augen werden ankommende Flüchtlingskolonnen bejubelt, als die Züge mit Menschen aus Syrien und anderen Krisenländern einfahren, steigen bunte Luftballons in den Himmel, die Menge applaudiert frenetisch.

      In den Fußballstadien hängen „Refugees welcome“-Banner, eine weitere humanitäre Geste, die Solidarität mit den Schutzsuchenden bekundet.

      Deutschland, so hat man den Eindruck, schwebt in einer kollektiven Willkommenstrance. Man fühlt sich erinnert an weit zurück liegende Bilder, an die Rückkehr der deutschen Fußball-Nationalmannschaft nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft 1954 oder die Ankunft der Beatles in Hamburg 1966.

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