Jo Zybell

Lennox und die letzten Tage von Riverside: Das Zeitalter des Kometen #15


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Liz‘ Lachen hörte er das Schluchzen seiner Frau. »Es tut mir so Leid, Darling, so Leid.« Sie weinte laut.

      Plötzlich sah Simon sie vor dem Altar der Lutherischen Kirche von Riverside sitzen – Liz und Tim. Zehn Jahre war das her. Auch damals hatte Eve geweint. Und Tim hatte gestrahlt wie einer, der den Hauptgewinn gezogen hatte. Und die Einsicht, dass alles nur ein einziges Mal geschieht, wirklich nur ein einziges Mal, ließ Simon frösteln.

      Und der Song ging ihm durch den Kopf.

      Aus seiner Tasse dampfte der Kaffee, draußen im Flur weinten Tim und Eve, auf dem Kalenderfoto hissten Präsident Schwarzenegger und ein paar Bauarbeiter die amerikanische Flagge auf dem neuen World Trade Center, und in seinem Kopf sang Mick Jagger This could be the last time!

      3

       Mojave-Wüste, November 2517

      Die Dämmerung verdrängte die Finsternis aus dem Nachthimmel. Aber nicht die Schatten der Vögel. Die zeichneten sich von Minute zu Minute deutlicher ab. Große Vögel, sehr große Vögel kreisten über dem Kakteenhain. Tim zählte sieben Silhouetten am Morgenhimmel.

      »Geier«, sagte er.

      Er kannte sich mit der Fauna seiner alten Heimat aus. Die Silhouetten dort oben – Flügel, Schweif, Kopf – waren eindeutig die des kalifornischen Kondors. »Verdammt noch mal, es sind Geier!«

      Marrela runzelte die Stirn. »Was sind Geier?«

      »Aasfresser. Sie lauern schwachen und sterbenden Kreaturen auf und vertilgen, was der Tod übrig lässt. Geronnenes Blut, totes Fleisch, Knochen.«

      Marrela schien von solchen Vögeln noch nichts gehört zu haben. Das wunderte Tim nicht: Die einst in Europa vorkommenden Geierarten – Mönchs- und Gänsegeier – waren in den Jahren vor »Alexander-Jonathan« so gut wie ausgestorben. Wie sollten von ihnen Mutationen abstammen, die eine europäische Barbarin hätte kennen können?

      »Sie fressen Kadaver?« Marrelas Stimme klang nicht sehr überzeugt. Sie kauerten zwischen den mehr als mannshohen Kakteen und spähten hinauf zu den Geiern. Schwer zu sagen, wie groß die Vögel waren – Tim und Marrela konnten die Höhe, in der sie flogen, nicht abschätzen. »Zu deiner Zeit vielleicht – aber sagst du nicht selbst immer, alles sei anders geworden?« Sie sah ihn an. Es war inzwischen hell genug, um die Skepsis in ihrer Miene zu erkennen. »Vielleicht sind sie seit Alxanatan ja zu Jägern mutiert?«

      Zu deiner Zeit. Wie das klang – als wäre er ein Relikt einer längst vergangenen Epoche, als dürfte es ihn eigentlich nicht geben. Und beides stimmte auf makabere Weise: Tim gehörte in eine andere Zeit, und dass sein Lebenslauf fünfhundertvier Jahre einfach übersprungen hatte – in Bruchteilen von Sekunden einfach so übersprungen –, das konnte der ehemalige USAF-Pilot nicht einmal sich selbst erklären.

      Manchmal, wenn Tim darüber nachgrübelte, musste er unwillkürlich lachen.

      Vielleicht hätte er auch diesmal zumindest geschmunzelt, aber Marrela hatte noch in anderer Hinsicht Recht: Wer garantierte, dass Geier noch immer Aasfresser waren? Niemand.

      In einer Welt, in der man auf Heuschrecken reiten und Libellenlarven an Spießen braten konnte, niemand.

      »Okay.« Tim zog seinen Driller. »Warten wir, bis die Sonne aufgegangen ist, dann probieren wir es aus.« Er überprüfte das Magazin der Waffe – auch so ein Ding, das es zu seiner Zeit noch nicht gegeben hatte. Er hatte sie einem toten Agenten des Weltrats abgenommen. Noch wenig mehr als zwei Dutzend Kleinkaliber-Explosivgeschosse steckten im Magazin. Er würde sparsam damit umgehen müssen, über ein Ersatzmagazin verfügte er nicht.

      Eine halbe Stunde später etwa war es so hell, dass man die Stacheln in den Furchen der Kakteen sehen konnte. Stacheln so lang wie Unterarme. Ein kräftiger Wind blies von den Bergen im Westen her, feucht und kühl, und das Dornengestrüpp am Hang schüttelte sich. Unablässig zogen die Kondore ihre Kreise hoch über dem Kakteenhain. Träge bewegten sie ihre Schwingen. Es gab keine Thermik, von deren Auftrieb sie sich tragen lassen konnten; natürlich nicht, keine Sonne erwärmte die Luft um diese Zeit.

      Marrela und Tim hatten ihre Sachen in die Felle und Decken gerollt. »Versuchen wir es.« Tim warf sich sein Bündel über die Schulter und stand auf. Den Driller in der Rechten, blickte er zu den Geiern hinauf. Er traute dem Frieden nicht. Marrela schnallte sich die leere Schwerthalterung auf den Rücken. Mit gezogener Klinge ging sie zwischen den Kakteen hindurch. Der blonde Mann aus der anderen Zeit folgte ihr.

      Sie ließen die Greife nicht aus den Augen. Und – Tim registrierte es sofort – sie blieben im Zentrum ihrer Kreise. Die Vögel folgten ihnen also.

      »Sie belauern uns, merkst du es?« Marrela stemmte die Faust in die Hüfte und schulterte das Schwert.

      »Aber sie greifen nicht an.« Tim hob und senkte den Driller. Als könnte er sich nicht entscheiden, ob er ihn wegstecken oder auf die Vögel richten sollte.

      »Noch nicht«, sagte Marrela. »Wenn es stimmt, dass sie Aasfresser sind, müssen sie uns für sichere Todeskandidaten halten.«

      Marrelas Schlussfolgerung verschlug Tim die Sprache. Zum Henker – sie hatte Recht! Wussten oder sahen die Biester dort oben etwas, was sie hier unten noch nicht wussten oder sahen?

      Sie ließen die Stachelsäulen der Kakteen hinter sich und liefen einen Geröllhang hinunter. Bei den Dornbüschen an dessen Ende bleiben sie kurz stehen, blickten zu den Kondoren hinauf, gingen weiter, blickten wieder hinauf. Vier-, fünfhundert Meter legten sie auf diese Weise zurück, doch die Vögel machten keine Anstalten, sie anzugreifen. Sie blieben aber direkt über ihnen.

      Der Nachthimmel verblasste mehr und mehr, die letzte Schwärze wich dem jungen Tag.

      Meile um Meile brachten die einsamen Wanderer hinter sich. Geröll wechselte sich ab mit Kakteentürmen, bräunlichen Flechten und gelbem Gras. Sie gewöhnten sich allmählich an die Begleitung der Todesboten hoch über ihnen. Man gewöhnt sich an alles.

      Oder an fast alles – die meist geschlossene Wolkendecke empfand Timothy Lennox auch nach fast zwei Jahren in der fremden Zeit noch als unnatürlich.

      Die San Bernardino Mountains rückten näher. Tim änderte den südlichen Kurs. Sie marschierten westwärts. Und die Geier folgten ihnen. Im Norden ragte ein Mittelgebirge aus der Wüste. Das konnte nur der Ord Mountain sein, obwohl Tim ihn höher und weniger zerklüftet in Erinnerung hatte. Im Süden türmten sich die über dreitausend Meter hohen San Bernardino Mountains auf. Und dahinter, weiter westlich, die San Gabriel Mountains.

      Die Zunge klebte Tim am Gaumen. Der Durst brannte wie Fieber. Seine Beine waren schwer.

      Wenn irgend möglich, wollte er eine Überquerung der Berge vermeiden. Zwischen den San Bernardino und den San Gabriel Mountains führte eine Schneise in das Becken von Los Angeles hinein. Früher jedenfalls, »in seiner Zeit« war das so gewesen. Die Interstate 15 verlief dort. Vielleicht existierten noch Überreste der Highway-Trasse. Außerdem gab es Gewässer zwischen dem Ord Mountain und den San Bernardino Mountains, ein paar kleine Seen. Fünf Stunden lang marschierten sie, fünf Stunden kreisten die Silhouetten der Kondore über ihnen. Enger und enger rückten die Berge im Norden und im Süden zusammen. Die Mojave-Wüste verengte sich zu einem nicht einmal zehn Meilen breiten Streifen.

      Die gewaltigen Saguaro-Kakteen sah man jetzt seltener. Rechts und links ging das spärliche gelbe Gras in sattgrüne Matten über, fast kniehoch. Dahinter begannen bewaldete Hänge, dunkles Grün wechselte sich mit Rostrot und fahlem Gelb ab – Mischwald.

      Marrela blieb stehen und hob den Kopf. Diesmal nicht, um zu der Geiereskorte aufzublicken, sondern um zu schnuppern.

      »Riechst du es auch?« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

      Ja, Tim roch es auch – Wasser.

      Sie beschleunigten ihre Schritte. Marrela steckte die Klinge zurück in die Halterung.

      Dichter und grüner war jetzt das Gras unter ihren Sohlen. Der Boden federte. Feuchter,