Jo Zybell

Lennox und die letzten Tage von Riverside: Das Zeitalter des Kometen #15


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      Oder eine Entenart? Gleichgültig. Ein See jedenfalls, Hauptsache ein See.

      »Wasser!« Tim rannte los. »Himmel noch Mal – endlich Wasser!« Seite an Seite liefen sie zum Ufer. Grashalme peitschten ihre Knie und Schenkel, verkrüppelte Bäume mit kahlem Geäst flogen vorbei, und endlich sahen sie das Gewässer. Es war ein etwas größerer Teich, kaum vier Steinwürfe lang und nur wenig breiter. Hohes Gras stand am Ufer, an der westlichen Seite auch etwas Schilf. Die Wasseroberfläche kräuselte sich im Westwind.

      Marrela legte sich bäuchlings ins Gras und tauchte das Gesicht in den See. Tim kniete am Ufer nieder. Er schöpfte das Wasser mit der hohlen Hand zum Mund und trank mit kleinen Schlucken. Eiskalt strömte es durch seine Kehle. Es schmeckte modrig und auch ein wenig metallen, aber es stillte den Durst.

      Timothy richtete sich auf den Knien auf. Tief atmete er durch und ließ den Blick über die Wasserfläche schweifen.

      Sie hatten es geschafft. Die Mojave war überwunden!

      Kreisförmige Wellen breiteten sich vom Ufer weg aus. In einem Radius von gut dreißig Metern und viel zu hoch, als dass Marrela die Verursacherin sein konnte.

      Tim runzelte die Stirn. Der Wind schien sich gedreht zu haben. Er blies jetzt von Süden … oder nein: von oben?

      Ein Schatten bewegte sich auf dem Wasser, vergrößerte sich und reichte schließlich über die unerklärlichen kreisförmigen Wellen hinweg.

      Als Tim endlich nach oben blickte, war es fast zu spät.

      »Die Geier!« Er riss den Driller hoch!

      4

       Riverside, Kalifornien, 8. Dezember 2011

      CNN lieferte Bilder ohne Ende. Bilder einer aus den Fugen geratenen Welt. Sie saßen in Colin Ashtons Garage. Pete Armagosa und sein Enkel Rudy auf Gartenstühlen, Simon auf dem Beifahrersitz des Mercedes Cabriolets, und Colin auf dem Kotflügel. Es war gegen fünf Uhr nachmittags, ein Donnerstag. Der Fernseher stand auf der Werkbank an der Rückwand der Garage. Nagelneues Gerät; Colin hatte es erst drei Tage zuvor angeschafft. Ein tadellos frisierter Jüngling mit rotem Schlips und in dunklem Anzug verlas zum x-ten Mal die Spitzenmeldung des Tages: »Die für den zweiundzwanzigsten Dezember geplante Ablösung der Besatzung der Internationalen Raumstation wird immer fraglicher. Wie gestern erst bekannt wurde, weigert sich die Besatzung – zwei US-Amerikaner, zwei Russen, ein Deutscher, ein Franzose und zwei Japaner –, vor dem achten Februar 2012 den Rückflug zur Erde anzutreten …«

      »Saftärsche!« Colin warf seine leere Bierdose in den Fernsehkarton unter der Werkbank. Zerknautschte Dosen bedeckten Styropor und Zellophanfolien. »Weicheier! Fahnenflucht ist das!«

      »Psst!« Simon Lennox hob die Hand. Er war die halbe Nacht und den ganzen Tag zum Angeln am Lake Perris gewesen, zusammen mit Arthur Cassidy. Er kannte den letzten Stand der Dinge noch nicht.

      »… weder ESA noch NASA noch eine der betroffenen Regierungen wollten zu diesen Informationen Stellung nehmen …«

      »Die wissen warum«, orakelte Pete Armagosa, »glaubt mir, die wissen ganz genau, warum sie keine Stellung nehmen wollen.«

      Colin stieß einen Fluch aus, beugte sich zu dem mannshohen Kühlschrank an der Wand und zog ihn auf. Ein kurzer Blick in die Runde; die Männer nickten und leerten ihre Dosen.

      Nacheinander flogen sie in den Karton unter dem TV-Gerät, und nacheinander fingen sie den Nachschub, den Colin ihnen zuwarf.

      »Sie wissen mehr als wir, glaubt mir das, Jungs, sie wissen mehr.« Petes Stimme klang weinerlich. Simon beobachtete ihn von der Seite. Fast grau erschien ihm die Gesichtsfarbe des kleinen, etwas dicklichen Pete. Wenn man ihn besuchte, hing er regelmäßig vor der Glotze und ließ sich das Hirn von CNN abfüllen. Und wenn man ihn durch seinen Garten schlurfen sah, fielen seine hochgezogenen Schultern und sein schleppender Gang auf.

      »Schaut hin, dann wisst auch ihr genug.« Mit einer Kopfbewegung wies der junge Rudy Armagosa auf die Mattscheibe. Panzer rollten über die East Houston Street von Manhattan. Hunderte von meist jungen Menschen flohen vor ihnen. Angehörige der Nationalgarde jagten ihnen hinterher und prügelten auf sie ein. »Guckt euch das an!«

       Ähnliche Bilder aus anderen Teilen der Welt: Aufgebrachte Massen vor dem britischen Parlament, Militärkolonnen auf den Champs-Élysées, Schüsse in die Menge vor dem brasilianischen Präsidentenpalast, den das Militär in tagelangen Kämpfen zurückerobert hatte.

      »Ihr habt doch Augen im Kopf!«

      Rudys Stimme überschlug sich. Der aggressive Unterton beunruhigte Simon. Genau wie sein Großvater hatte sich auch der schlaksige Bursche mit den vielen Ringen in Ohren und Nase und dem langen schwarzen Zopf auf dem ansonsten kahlen Schädel verändert.

      Feierte wilde Partys im Nachbarhaus, ließ sich sogar tagsüber nur mit Bierdose in der Faust blicken und ging nur noch ins College, wenn es ihm passte. »Vielleicht wissen sie nichts, aber sie ahnen es«, sagte er lauter als notwendig. »Glaubt mir, sie ahnen es!«

      »Schwachsinn!«, knurrte Colin.

      »Vollkommener Schwachsinn!«

      Simon zuckte zusammen, als er den Verschluss seiner Dose knallen ließ.

      »Er hat doch Recht.« Pete schüttete den Kopf und seufzte. »Es ist hundert Mal schlimmer als damals, als diese Teufel das World Trade Center platt machten, wisst ihr noch? Das Fanal für die Religionskriege, wisst ihr es noch? Damals roch alles nach Weltuntergang. Jetzt stinkt es danach … Rudy trifft den Nagel auf den Kopf! Es geht zu Ende mit …«

      »Halt endlich das Maul!«, blaffte Colin.

      Die Tür im Garagentor öffnete sich. Gina und Eve traten ein. »Ach, hier seid ihr!« Eve beugte sich zu Simon hinunter und küsste ihn auf die Wange. Ihr Gesicht nahm einen missmutigen Ausdruck an, als sie die Bierdose in seiner Hand sah.

      »Tim hat angerufen«, flüsterte sie. »Er ist unterwegs nach New York City.«

      »Warum ausgerechnet in den Big Apple?«

      »Er wollte noch einmal bei Burt vorbeischauen.«

       Noch einmal bei Burt vorbeischauen!

      Simon Lennox nickte. CNN hatte zu einer Pressekonferenz ins Pentagon umgeschaltet. Ein Mann mit Glubschaugen stand an einem Rednerpult. Die Bilder rauschten an Simon vorbei. Wie betäubt fühlte er sich für Sekunden.

       Noch einmal bei Burt vorbeischauen!

      Als wäre es das letzte Mal. Simon blickte in die graublauen Augen seiner Frau. Angst hatte sich darin eingenistet. Seit Tagen – oder seit Wochen? Sie glaubte es auch; innerlich hatte sie sich schon damit abgefunden. Ihre Sprache verriet sie: Noch einmal bei Burt vorbeischauen …

      »Macht endlich die Glotze aus.« Gina Ashton schlug einen energischen Ton an. Den hatte sie sich in neunzehn Ehejahren mit einem Betonschädel angeeignet.

      Gina war eine kräftig gebaute Frau Anfang vierzig, mit schwarzem Haar und herben Gesichtszügen. Sie stammte von italienischen Einwanderern ab. Ihr Vater war bis vor drei Jahren Bürgermeister von Riverside gewesen.

      »Kommt lieber ins Haus und guckt euch an, was Kathleen da auf die Beine stellt!« Stolz schwang in ihrer Stimme. Seit Kathleen aus Deutschland zurückgekehrt war, arbeitete sie an einem Theaterstück.

      Niemand beachtete Gina sonderlich. Alle Augenpaare hingen am Bildschirm. Der Mann, der dort hinter einem Rednerpult hin und her tänzelte, hieß Jacob Blythe. Eine Einblendung stellte ihn als Professor der Astrophysik und Doktor der Medizin vor. Und als Chef der Astronomie Division der US Air-Force.

      »CNN bringt euch noch um den Verstand«, nörgelte Gina. »Und das Bier gibt euch den Rest.« Sie nahm Rudy Armagosa die Dose weg. »Was soll das, Rudy? Bist gerade mal siebzehn und hältst mit den Männern mit?« Sie funkelte ihren Gatten an. »Kannst du mir bitte verraten, wie ein Gesetzeshüter das mit seinem Gewissen