Paul Schurr

IM IMMERZU WERDEN


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Fell,

      Sie haben im Stillen

      Von den Abfällen

      Der Herrscher gelebt

      Und wurden dabei immer fetter.

      Hört nur, seht ihr denn nicht,

      Die Ratten sind wieder hier!

      Über unsere Füße

      Fallen sie schon her,

      Knabbern lautstark

      An den Sohlen.

      Doch unsere Köpfe

      Nehmen sie nicht ernst,

      Wir verschließen die Sinne

      Und lassen sie walten.

      Gefüttert mit unserer Gleichgültigkeit

      Erobern sie langsam die Macht.

      Hört nur, seht ihr denn nicht,

      Die Ratten sind wieder hier!

      Ihre Zähne werden schärfer

      Und aus allen Winkeln

      Tönt ihr Schrei

      Nach dem erneuten Endsieg!

      (März 1989)

      N OCH IMMER

      Längst aufgehört

      Die Stunden zu zählen,

      Schreiten wir beide

      Noch immer

      Gemeinsam durch die Zeit.

      Oft nicht bewusst

      Unserer starken Gefühle

      Sind sie doch geblieben,

      Noch immer,

      Trotz verblasster Zärtlichkeit.

      Aneinander gewöhnt

      Wie an das Paar Lieblingsschuhe,

      Bleibt uns jedenfalls

      Noch immer

      Ein großer Vorrat an Liebe.

      (September 1989, für Trici)

      D ER FREIHEIT

      Links von mir tot gewalzt,

      Verprügelt und gefoltert

      Von den Schwertern

      Aufgeschwemmter Admirale.

      Rechts von mir eingezäunt,

      Belogen und verraten

      Von den Wächtern

      Ausgebrannter Ideale.

      Hinter mir versteigert,

      Verstümmelt und erschlagen

      Von den Gegnern

      Einer allzu schwarzen Schale.

      Und doch:

      So hart geschmiedet

      Kann keine Kette sein,

      So dick gemauert

      Kein kalter Kerker,

      Dass sie nicht doch

      Alle Fesseln irgendwann sprengt

      In ihrem eigenen Namen.

      (9. November 1989 - Abend des Mauerfalls)

      W ESHALB

      Wozu glauben

      An Gutes und Liebe

      Unwichtige Gefühle

      Wozu

      Warum behüten

      Tot gesprochene Dinge

      Umweltfreundlichen Frieden

      Warum

      Wofür leben

      Wenn nicht für sich selbst

      Mächtig mit gierigem Blick

      Wofür

      Ich blicke in die Augen

      Eines kaum geborenen Kindes

      Deshalb

      (Mai 1990, für meinen Neffen Anton)

      M ODERNE NÄCHSTENLIEBE

      Zu Dutzenden

      Standen sie

      An der Unfallstelle

      Und bemitleideten

      Das sich im eigenen Blut

      Windende Opfer.

      Mein Gott,

      Wie ist das schrecklich,

      Hörte man

      Immer wieder sagen,

      Und mein Gott,

      Es war schrecklich,

      Denn niemand

      Der Dutzenden

      Half.

      (Oktober 1990)

      F RÜHLINGSFRAGE

      Des Winters Weiße geht in Tropfen,

      Die blauen Himmel sind nun öfter,

      Alte Sonne spendet neue Wärme,

      Bananenduft durchzieht die Stadt.

      Der Bäume Blüten erobern die Zweige,

      Eisbuden locken aus dem Winterschlaf,

      Mädchen zeigen wieder Beine,

      Waffeleis klatscht auf die Straße.

      Die Dichter denken frische Verse,

      Kinder spielen Ringeltänze.

      Was wird wohl, wenn die Blätter fallen,

      Außer Frühlingsversen bleiben?

      (Mai 1990)

      S ATT

      Völlig nackt,

      Weil aufgewärmt

      Von Wohlstandskälte,

      Saß ich in der Ecke

      Meines Zimmers,

      Die Ohren lagen

      Abgeschnitten

      Zwischen meinen Beinen,

      Und ich verschlang

      Die fetten Zeiten:

      Kinderrassel

      Spielzeugwaffe

      Fahrrad

      Walkman

      Comicheft

      Tennisschläger

      Zigarette

      Zeugnis

      Mofa

      Video

      …und am Teppich

      Kratzte eine Stimme

      Lautlos.

      Viel gesagt,

      Weil weit entfernt

      Von wirklich großen Taten,

      Hielt ich das Fernsehgerät

      In meinen Armen,

      Die Augen hingen

      Ausgestochen

      Im prall gefüllten Kleiderschrank,

      Und ich fraß mich

      Durch die Jahre:

      Waschmaschine