und musste bettelnd als Lückenbüßer einen Job vom Arbeitsamt annehmen. Ute hatte sich gesetzt und prüfend in die Runde der Kollegen geschaut. Zu ihrem Missfallen hatte auch Kollegin Beer eine Freistunde und korrigierte Tests am gegenüberliegenden Tisch. Elmar dachte nur an seinen bevorstehenden Unterrichtsbesuch und brannte darauf, ein paar Probleme anzusprechen.
„Ist dir aufgefallen, dass Malina und Leona ihre Handys unterm Hefter liegen hatten und fleißig SMS geschrieben haben? Noah und Jonah haben die Vokabelliste nicht abgeschrieben und Lissy hat eine ganze Tafel Schokolade verputzt. Hatte die Mutter nicht darum gebeten, dass wir auf ihre Diät achten? Die hat bestimmt 20 Kilo Übergewicht.“
Ute hatte, während Elmar sprach, seine Hand genommen und ihren Daumennagel in seine Haut gedrückt, sodass er kurz sein Geicht verzerrte. Inge Beer tat, als hätte sie die Kommunikation am Nachbartisch nicht mitbekommen, war aber trotzdem Zeugin dessen geworden, was sich hinten in der Klasse von Kollegin Leitz abgespielt hatte. Elmar rieb seine verletzte Hand und sah Ute fragend an.
„Das wird beim Besuch nicht passieren“, versicherte sie. „Ich sitze auch mit hinten in der Klasse. Außerdem wissen die Kids, dass die Stunde für dich wichtig ist und sie werden auch wegen des Besuchs ihr Bestes geben.“
Inge Beer nahm eine Sonderstellung im Kollegium ein. Im Grunde vertrat sie einen vom Aussterben bedrohten Lehrertypus: den strengen Moralisten. Sie war 54 Jahre alt und schwor auf die alten Tugenden: Ordnung, Zuverlässigkeit und Fleiß. Als am Nebentisch das Wort ‚Kids‘ gefallen war, hatte sie kurz aufgeschaut und die Augen verdreht. Ute hatte das gesehen und einen abfälligen Kommentar von ihrer Kollegin erwartet, denn Beer vertrat den Standpunkt, dass aller Missbrauch mit dem Missbrauch der Sprache beginne. Duldete man die Verunglimpfung der Sprache, ebnete man der Gewalt die Tür. Inge Beer achtete daher sehr genau auf die Wortwahl, besonders ihrer Kollegen. ‚Kids‘ gehörte auf den Sportplatz, hatte sie Ute Leitz bei anderer Gelegenheit unter vier Augen gesagt. Das Wort unterminiere die respektvolle Vorbildrolle des Lehrers. Ute war nicht beeindruckt gewesen und konterte seitdem mit Ignoranz.
Elmar bekam von den Querelen innerhalb des Kollegiums nichts mit und selbst wenn, es würde ihn nicht interessieren. Ute fasste sich ein Herz und lud Elmar auf einen Kaffee im Extrablatt ein. Elmar nahm die Einladung an, machte aber zur Bedingung, dass sie seinen vorläufigen Unterrichtsentwurf besprechen würden.
Inge Beer schaute beiden nach, als sie das Lehrerzimmer verließen. In ihrem Blick lag Wehmut, vielleicht sogar Melancholie, die, wie auch immer, nichts mit dem Moment zu tun hatte, sondern in die Vergangenheit ihrer Kinderheit reichte.
2 Das Pferd
Zwei andere Leben waren gerade durch die Tür des Lehrerzimmer verschwunden. Blühende, romantische Leben. Sie ähnelten so wenig dem eigenen, das sich seit Monaten mit der Endlichkeit plagte. Eigentlich hatte Inge mit der Zukunft abgeschlossen, kein Acker weit und breit, auf dem sie ein Samenkorn aussäen würde. Aber sie musste tapfer sein und durchhalten. Bald würde sich ihr Plan erfüllen, die göttliche Fügung betrogen sein und sie wäre frei. Das Leben war in jedem Fall ein schleichender Prozess, dessen Ende man in der Regel dem Zufall überließ. Hilflos wurde der Mensch geboren, hilflos starb er. Sie hatte das Schicksal herausgefordert und war überrascht, dass sie den Mut dazu fand. Sterben erforderte Mut, wenn es in die eigenen Hände genommen wurde.
Inge Beer sah durch ihre Brille auf die Dachrinne der gegenüberliegenden Mensa und verglich sie mit dem Querbalken in der Glastür des Lehrerzimmers. Beide Linien verliefen exakt parallel. Sie neigte ihren Kopf und verglich die beiden Horizontalen. Wie sie sich auch beugte, auf die Bautechnik war verlass.
Es würde in der Turnhalle sein. Das wusste sie felsenfest, weil es dort passiert war, vor 42 Jahren. An der Technik musste sie noch feilen, denn auf dem Gebiet war sie immer ein Versager gewesen. ‚Dulle‘ hatte sie ihr Vater genannt. Das Wort war aus dem Englischen entlehnt und bedeutete so viel wie ‚Stumpfe‘. Auch wenn es stimmte, dass sie nicht besonders gut gebaut war und sich manchmal blöd anstellte, hätte er sich ein anderes Wort für sie einfallen lassen können.
42 Jahre waren eine lange Zeit, doch Zeit kannte kein Maß, wenn es um Verletzungen ging. Da konnte die Zeit gemein sein und einfach zwischendurch erlöschen. Dann war es wie damals, als er ihr den Teller weggenommen hatte, in dem nur Suppe war und ein paar Buchstabennudeln. Und dann musste sie auf ihr Zimmer gehen und später ohne Aufforderung ihre Hausarbeiten vorzeigen und aus dem Englischbuch vorlesen. Kein Sterbenswort hätte sie von sich aus gesagt. Lieber hätte sie sich die Zunge herausgeschnitten, als vor ihren Eltern laut etwas vorzulesen, aber sie musste. Nur ein Fehler und sie hätte sich in die Hölle gewünscht, nur ein Tadel und sie wäre am liebsten tot umgefallen – zur Strafe ihrer Eltern. Sie hatte geglaubt, die Jahre der stillen Qualen und der unzähligen Tränen überstanden zu haben. Doch nun stand sie wieder allein vor dem Scherbenhaufen ihrer leidvollen Kindheit.
‚In der Turnhalle würde es sein‘, bestätigte eine innere Stimme ihren Vorsatz. Sie horchte genau, um nicht getäuscht zu werden. Es war doch ihre Stimme. Kein Zweifel. Sie war ganz normal. Niemand hatte den Wandel bemerkt.Wie sollten sie auch? Seit Langem glich ihre Fassade einer versteinerten Gebetsmühle. Sie verkörperte ein kompromissloses Gerüst aus Geboten, das keinen interessierte. Unter den Kollegen galt sie als die fette alte Moralinstanz, die vergeblich die Welt missionieren wollte. Eine gescheiterte Existenz. Dabei hatte alles so gut angefangen. Als junge Lehrerin hatte sie mit ihrer Einstellung bei den damaligen Kollegen Anerkennung geerntet. Sie vertrat die Auffassung, dass Schule weder Schonraum noch Vorbereitung auf die Realität einer von der Wirtschaft beherrschten Gesellschaft sein durfte. Schule war der wichtigste Ort für eine Erziehung zum guten Menschen und diese Erziehung stellte einen bewussten Sprachgebrauch in den Vordergrund. Seitdem hatte das Kollegium durch viele Abgänge und Neuzugänge sein Gesicht verändert. Der einstige Teamgeist hatte sich verflüchtigt und das Einzelkämpfertum seinen Platz eingenommen. Hinzu kam der Beginn des neuen Zeitalters der sozialen Medien. Für Inge Beer war der Zug abgefahren, ihre ruhmreichen Stunden waren vorbei. Ihre Seele hing am Tropf und weil sie äußerlich so unansehnlich fett war und seit neustem einen Rollator brauchte, fühlte sie sich auch von Gott verlassen. Gebete waren immer rarer geworden und verkümmerten zu Bekundungen von Selbstmitleid, das sich jedoch beim Planen ihres Abschieds von dieser Welt langsam in Luft auflöste.
Worauf wartete sie also? Blockierte sie sich selbst, weil sie die Turnhalle ausgesucht hatte?
Eigentlich nicht. Sie wusste wirklich nicht, wie sie es dort praktisch anstellen sollte. Natürlich durfte ihr Versuch nicht fehlschlagen. Das käme einem erneuten Versagen gleich. Ihr Plan sah das nicht vor. Sie wünschte, ihr Vater wäre noch am Leben. Welch eine Genugtuung würde ihr widerfahren, wenn er mitansehen müsste, wie sie in der Halle an den Ringen baumelte.
Sie war zwölf Jahre alt und übergewichtig, als es passierte. Adipositas hatte der Arzt diagnostiziert, wahrscheinlich genetisch veranlagt. Da könne man nicht viel machen. Ihr Vater war Sport- und Deutschlehrer und sie seine Schülerin. In einer der Sportstunden wurde der Sprung am Pferd geübt. Inge war von vorneherein bewusst, dass sie es nicht schaffen würde. Ihr Vater ließ sie in Reih und Glied mit den anderen antreten. Die junge Inge sah ihr Scheitern voraus, rannte aber trotzdem los und prallte mit voller Wucht vor den ledernen Bock. Alle Schüler brüllten los vor Lachen. Inge stand auf, putzte sich den Staub von den Knien und setzte sich auf eine der langen Bänke. Sie weinte nicht, nicht mehr mit zwölf. Ihr Vater hatte sich nie damit abfinden können, dass er eine dicke, schwerfällige und eigentlich hässliche Tochter hatte. Sein Pfiff der Trillerpfeife hallte noch immer lebhaft in ihren Ohren. Der Pfiff galt ihr und ihre Blamage war eine seiner vielen versteckten Strafaktionen. So wie der Teller mit den Buchstabennudeln. Er konnte es nicht ertragen, dass sie sich von der Suppe nachgenommen hatte und schickte sie fort. Eine Zeit lang hatten ihre Eltern eine Diät versucht, aber eigentlich gab es nur weniger zu essen, was aber wenig effektiv war. Einen Tag vor ihrem elften Geburtstag hatte ihre Mutter mehrere Cornetto-Eistüten für die Geburtstagsfeier ins Gefrierfach gelegt. Inge hatte sich heimlich ein Eis genommen und es verputzt. Ihre Mutter fand die Verpackung im Abfalleimer. Abends, als ihr Vater nach Hause kam, gab es die Abreibung. Ihr Vater konnte nur davon gewusst haben, weil ihre Mutter sie verraten hatte. Dieser Verrat wog schwer, denn er zerrüttete