DDR. Heute war er nicht ganz so hart, denn das hatte er noch nicht erlebt. Er schaute weg und wieder hin, im Glauben, es könnte sich um eine Täuschung handeln. Die Wahrheit brauchte nicht viele Worte. Dort hing Frau Beer an zwei Seilen von der Decke. Ein drittes, dünners Seil war um ihren Hals gewickelt und mit den beiden Ringen verbunden worden. Es fehlte ein halber Meter und ihre Füße hätten den Linoliumboden berührt. In der Ruhe lag die Tragik der Szene. Nichts bewegte sich. Ein völlig ausgeglichenes Pendel. Uckermann schluckte, als er einen Schritt auf das traurige Gebilde zu machte. Kurz zuckte seine Hand, um nach seinem Handy zu greifen, aber was sollte die Ambulanz retten? Etwa zwei Meter neben dem toten Korpus stand ein Kasten, oben drauf der Lederdeckel, insgesamt einen Meter hoch. Daneben stand ein zweiter Kasten, nur etwa 60 cm hoch. Uckermann folgerte und schaute auf seine beiden Gehilfen, die sich ihm genähert hatten: „Da ist sie hoch, erst auf den kleinen Kasten, dann auf den großen.“ Einer der Gehilfen würgte und hielt sich den Mund zu, entspannte sich aber wieder. Die drei Männer schauten die Frau und die Seile an. Es sah so aus, als fragten sie sich, ob es auch hätte schiefgehen können, bei dem Gewicht. Frau Beers Gesicht war entstellt. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug. Auf dem hohen Kasten lag ein Briefumschlag. „Ein Abschiedsbrief“, formulierte einer der Gehilfen und wollte danach greifen, aber Uckermann vereitelte die Aktion und meinte: „Das ist Chefsache. Ich ruf Kühne an.“
Für einen Schulleiter gab es kaum etwas Schlimmeres als einen Selbstmord auf dem Schulgelände, geschweige denn, den Selbstmord einer Kollegin. Hinzu kam der unglückliche Umstand, dass das Abitur ins Haus stand. Kühne überlegte scharf, wie alles zu retten war. Er durfte bloß keinen Fehler machen. Schon im eigenen Interesse. Ein Selbstmord warf ein schlechtes Licht auf ihn, als obersten Dienstherren. Warum hatte er den psychologischen Dienst nicht eingeschaltet? Sollte er es nun tun, für die Schüler? Schwache Gemüter unter den Abiturienten könnten durch den Todesfall negativ beeinträchtigt werden und deswegen schlechter abschneiden. So würden auch einige Eltern denken. Er saß verdammt in der Klemme und wünschte, dass Inge ihn wenigstens hätte warnen können.
„Uckermann, machen Sie die andere Halle fertig“, rief Kühne seinem Hausmeister zu und schaute auf die Uhr. „In zwei Stunden wird geschrieben. An die Arbeit.“
Erst als er mit verschränkten Armen auf dem Rücken vor der Leiche von Inge Beer stand, begriff er das volle Ausmaß der Katastrophe. Oberstudienrätin Beer war kein schöner Anblick. Ihre Augen stachen hervor. Die Hände waren geschwollen und die Haare hingen ihr ins Gesicht. Ihre Deutschstunden würden alle ausfallen. Ersatz würde er nicht kriegen. Sie war ja im Grunde eine gute Lehrerin gewesen, hatte ihr Pensum immer geschafft. Doch bei etlichen Schülern konnte sie nicht punkten, schon gar nicht, nachdem einige Mädchen aus den 10er-Klassen sie auf dem Kieker gehabt hatten.
Die gute alte Beer. Kühne runzelte die Stirn. Er würde nicht leugnen können, dass ihr Schicksal unweigerleich mit ihrem Schaffenskreis in Verbindung stand. Hatte sie durch die Wahl des Tatorts gar eine Schuldzuweisung beabsichtigt? Er schaute auf den Umschlag. Ein Abschiedsbrief. Wenn er für ihren Mann bestimmt war, würde er zu Hause liegen. Dieser Brief war also für die Schule, genauer für den Leiter der Schule bestimmt. Kühne nahm das Couvert, sah jedoch sofort, dass eine Adresse fehlte, und legte den Brief zurück. Er sah auf zu Inge Beer, die ihm aber eine Erklärung schuldig blieb. Selbstmord. Er wäre auf der sicheren Seite, wenn er diese Entscheidung der Polizei überließe. Er nahm sein Handy zur Hand.
Die Halterner Wache stellte ihn durch zur Mordkommission in Münster. Fey Amber nahm seinen Anruf entgegen. Sie sagte zu, in einer Stunde vor Ort zu sein und verlangte, dass der ‚Tatort‘ weiträumig abgesperrt würde.
Kühne zitierte Uckermann und die beiden Gehilfen zu sich und trichterte ihnen ein, über die Situation in Halle I absolutes Stillschweigen zu bewahren, zumindest so lange, bis die Informatikklausur vorbei war. Danach würde er das Kollegium einweihen und ein Stab von erfahrenen Kollegen würde sich um die Rolle der Schule bei den Trauerfeiern bemühen: Schülergedichte, Kränze, Andacht in ihrem Klassenraum, Blumengesteck an ihrem Tisch im Lehrerzimmer, Info an den Elternbeirat, Trauerflor, Fahne auf Halbmast, Facebook und so weiter.
Fey Amber und Kollege Mörris hielten an der Kreuzung Conzeallee/Schuchardtstraße. Vor der Halle I wurden sie von Uckermann empfangen. „Schulleiter Dr. Kühne lässt sich entschuldigen. Wichtige Termine und der Stundenplan muss geändert werden. Da ist der Chef immer sehr genau. Wenn Sie mir bitte folgen. Der Name der Toten ist Inge Beer, Lehrerin an der Schule. Ihr Abschiedsbrief liegt auf dem Bock.“
Fey und Mörris blieben stehen, als sie die Halle betraten, und ließen den Eindruck aus der Ferne auf sich wirken.
„Eine Bühne, wenn du mich fragst“, bemerkte Mörris. „Die Inszenierung eines Selbstmords. Warum, frage ich dich, machte sich Frau Beer die Mühe, ihren Selbstmord so demonstrativ darzustellen? Wollte sie etwas zelebrieren? Oder klagt sie an? Was will sie uns mitteilen? Oder was will uns ihr Mörder mitteilen?“
„Du glaubst an ein Fremdverschulden?“
„Gute Frage. Es sieht nach Selbstmord aus, aber die Umstände machen mich argwöhnisch. Das ganze Szenario erfordert Sachverstand. Sieh dir den Verlauf der Seile an und wie sie dort hinten an der Wand festgezurrt wurden. Bei Belastung gibt das System nach. Das müssen Frau Beer oder ihr Mörder bedacht haben, andernfalls wäre sie nach dem Sprung auf dem Boden gelandet.“
„Schauen wir uns den Brief an“, schlug Fey vor und las leise vor:
Zur Wacht, zur Wacht.
Ruf ich euch auf.
Macht Kinder nicht
Euch zu Gebrauch.
Seht ihnen nach,
Mit Liebe gebet.
Wahr und echt
Im Herzen strebet.
„Wenn das nicht eine Lehrerin geschrieben hat“, kommentierte Mörris. „Klingt allerdings nicht nach dem Abschiedsbrief einer Lebensmüden.“
„Ganz und gar nicht. Eine positive Botschaft. Sie ruft auf, wachsam das Wohl des Kindes im Auge zu haben. Kein persönliches Wort und auch nicht unterzeichnet. Für mich sieht das so aus, als würde sie mit dem Gedicht in eine Unterrichtsstunde gehen, um es von ihren Schülern interpretieren zu lassen.“
„Die Schüler sollten sie kaum in dem Zustand finden. Vielleicht waren die Zeilen an die Eltern adressiert.“
„Die letzten Worte einer Lehrerin an die Eltern ihrer Schüler. Eine denkbare Erklärung. Sie ging weder im Zorn, noch anklagend. Eigentlich sehr sympathisch. Eine reife Frau scheidet aus dem Leben ohne Groll und Vorwürfe. Sie war mit sich im Reinen, hatte das Leben so akzeptiert, wie es war, ohne es ändern zu wollen. Nur die Kinder lagen ihr noch am Herzen.“
„Du hast den Ball aber schnell aufgenommen. Obwohl du nicht Mutter bist, hast du mit der Interpretation begonnen. Nicht schlecht. Unter Einbeziehung der Umstände könnte es sich doch um einen Abschiedsbrief handeln. Wir sind nur irritiert, weil der Brief nicht unseren Erwartungen entspricht. Inge Beer beging Selbstmord, warum sonst sollte sie den Brief überhaupt geschrieben haben? Ausschlaggebend ist vor allem, dass sie ihn mit zum Tatort gebracht hat.“
„Okay, bleiben wir zunächst bei Selbstmord. Hinweis auf Fremdeinwirkung kann ich auch nicht feststellen. Ich gehe davon aus, dass der Brief von ihr stammt. Er könnte natürlich auch deponiert worden sein. Spuren verwischen, falsche Fährte legen, und so weiter. Werden wir bald wissen, schließlich ist er handschriftlich verfasst worden.“
Fey wandte sich an Mörris mit ihrem Wünscheblick, der ihm sofort signalisierte, dass sie etwas von ihm wollte, auf das sie selbst keine Lust hatte.
„Würdest du fühlen?“
Mörris gestikulierte eindeutig ‚Nein‘, krempelte aber gleichzeitig seinen Ärmel hoch und schob seine Hand in die Armbeuge von Inge Beer.
„Warm, aber nicht sehr. Die Halle ist beheizt. Ich denke sechs bis sieben Stunden. Ich rufe Harry und die Pathologin Degenhardt an. Solange wir nicht eindeutig von einem Selbstmord ausgehen können, lassen wir die Truppe antanzen. Was meinst du?“
„Einverstanden.