die das Erfahrbarmachen von literarischen Kulissen erst ermöglicht. Um den per se fiktiven Schauplatz eines fiktionalen Werks mit einem in der Realität wirklich existierenden Ort vergleichen zu können, muss davon ausgegangen werden, dass die textinternen Referenzen realitätsrelevant sind, oder anders gesagt: dass der im Text beschriebene Ort seitens des Autors bewusst und absichtlich auf die räumlichen Gegebenheiten verweist, die außerhalb des Texts vorgefunden werden konnten oder noch können. Rolf Selbmann hält dazu fest: »Literarische Aussagen über die Wirklichkeit sind zwar an dieser Wirklichkeit nachprüfbar. Doch die Frage, ob sie wahr oder falsch sind, hat für die literarische Fiktion keine Bedeutung«16. Auf die Orte der Literatur übertragen bedeutet das: Ein literarischer Schauplatz kann zwar mit einem in der Realität existierenden Ort verglichen werden; ob er diesem Ort aber bewusst (= wahrhaftig) nachempfunden ist, spielt für den fiktionalen Ort keine Rolle. Trägt der fiktionale Ort jedoch ausgerechnet den Namen des Orts der Realität, so kann immerhin von einer bewussten Absicht des Autors ausgegangen werden, diese Referenz herzustellen. Schildert er einen Prachtboulevard, der in seinen Eigenheiten an die Berliner Allee Unter den Linden erinnert, so ist seine Absicht erst dann als erwiesen anzusehen, wenn er konkrete Namen nennt, die mit der im Berlin der Realität befindlichen Allee oder den sie umgebenden Straßen, Plätzen, etc. übereinstimmen. Unterlässt er dies, so muss die Relevanz des Verweises mit Vorsicht behandelt werden – was noch lange nicht bedeutet, dass sich der Autor beim Arrangement der Kulisse nicht trotzdem von der Berliner Allee hat beeinflussen lassen.17 Kehren wir an dieser Stelle noch einmal zu den Serapions-Brüdern zurück, die in der Analyse der namensgebenden Erzählung Der Einsiedler Serapion die Verbindung zwischen den beiden Ebenen definieren:
Es gibt eine innere Welt, und die geistige Kraft, sie in voller Klarheit, in dem vollendetsten Glanze des regesten Lebens zu schauen, aber es ist unser irrdisches [sic!] Erbteil, daß eben die Außenwelt in der wir eingeschachtet, als der Hebel wirkt, der jene Kraft in Bewegung setzt. (SB 68)
Ohne die Außenwelt gibt es keine Möglichkeit, die innere Welt der Inspiration in vollendeter Form zu schauen und im Werk zu reflektieren; das ist nicht nur die entscheidende Erkenntnis für den Umgang mit Figuren, wie von Klaus Deterding,18 und für den Umgang mit Orten, wie im vorangehenden Absatz beschrieben, sondern auch die Antwort auf die Überlegungen zu den realitätsrelevanten Referenzen. Wenn wir von einer Inspiration in der Realität ausgehen, die in der Phantasie des Kunstschaffenden verarbeitet wird und dann im Werk wiedererkannt werden kann, relativiert sich die Frage nach den aus der Außenwelt einfließenden (oder anders gesagt: den autobiographischen) Elementen in einem Text insofern, als alle künstlerische Produktion von den Einflüssen der Außenwelt (oder anders gesagt: der Biographie) des Künstlers abhängig ist und es sogar sein muss, wenn sein Werk den Anspruch an die von Theodor geforderte Glaubwürdigkeit erfüllen will. In diesem »Serapionischen Prinzip« (SB 70),19 wie Lothar es bezeichnet, liegt zwar nicht die Legitimation, die Orte der Fiktion mit jenen der Realität gleichzusetzen, wohl aber, sie miteinander zu vergleichen, weil sie wie jedes Produkt der Phantasie von der Realität motiviert sind und im fertigen künstlerischen Werk sogar wiedererkannt werden s o l l e n. Wenn dies für alle Schriftsteller gilt, so auch und in besonderem Maße für Hoffmann. Er hat die autobiographischen Elemente in seinen Werken nicht nur teils stillschweigend, teils lauthals eingestreut und somit die Referenzen zur extratextuellen Wirklichkeit greifbar gemacht,20 sondern diese Vorgehensweise auf textueller Ebene selbst zur Diskussion gebracht, als mise en abyme des künstlerischen Inspirationsgeschehens – wie im Fall von Theodors Zitat. Die Überlegungen zum Wirklichkeitsanteil der Serapions-Brüder können am Ende dazu beitragen, das Prinzip von Hoffmanns Poetologie zu untermauern, und umgekehrt erklärt die Tatsache, dass die Fiktion ›qua Serapion‹ einen fiktionalisierten Teil der Wirklichkeit enthalten muss, Hoffmanns Vorgehen und Bereitschaft, seine Erlebnisse in der Literatur zu verarbeiten.
1.3. Ménage à trois: Kulisse – Autobiographie – Werk
Wo aber besteht die Verbindung zum Literaturtourismus, und wozu brauchen wir ihn in diesem Kontext überhaupt? Barbara Schaff unterscheidet verschiedene Formen von literarisch aufgeladenen Schauplätzen: Eine »literary destination« ist für sie entweder »a place connected to an author’s biography« oder aber »a location in a work of fiction which also exists in the real world«21. Anhand dieser Charakterisierung kann eine Brücke zwischen der Literaturwissenschaft und dem Literaturtourismus geschlagen werden. Man könnte sich dem Themenkomplex von real existierenden Orten in fiktionalen Werken auch auf rein theoretische Weise nähern;22 der literaturtouristisch gefärbte Blick aber scheint besonders gut geeignet zu sein, um über den Tellerrand der Literaturwissenschaft hinauszuschauen, denn Barbara Schaffs soeben erwähnte Auslegung liefert zwei wichtige Teilbereiche der Analyse in dieser Arbeit: Die drei Eckpunkte der Untersuchung sind literarische Kulisse, autobiographisches Momentum und Werk.
Die literarische Kulisse bezeichnet die im Werk beschriebenen Schauplätze und ihre extratextuellen Referenten – die authentischen Orte, die zum Entstehungszeitpunkt des Werks in der Realität wiedergefunden und -erkannt werden konnten bzw. gegebenenfalls noch immer erkannt werden können.
Das autobiographische Momentum stellt jene Elemente des Werks dar, die mit der Biographie des Schriftstellers in Verbindung stehen und von ihm teilweise oder ganz aus erlebtem Geschehen entliehen wurden.
Das Werk schließlich beinhaltet nicht nur die jeweils betrachteten literarischen Texte, sondern auch ihre wissenschaftliche Auslegung.
Dieses letztgenannte Feld, das Text und Text-Kritik vereint, befindet sich eindeutig im Kompetenzbereich der Literaturwissenschaft, die gelegentlich auch das autobiographische Momentum in ihre Untersuchungen mit einbezieht, falls sie es für die Deutung des Werks als relevant erachtet.23 Der Literaturtourismus hingegen beschäftigt sich, wie bereits beschrieben, hauptsächlich mit den Wechselbeziehungen zwischen literarischer Kulisse und Autobiographie des Künstlers, ohne ausführliches Interesse an den daraus resultierenden Konsequenzen für das Werk zu zeigen. Ich möchte im Folgenden die beiden Vorgehensweisen kombinieren, vereinfacht gesagt zu einer Gleichung:
Literarische Kulisse + Autobiographisches Momentum
= Neue Erkenntnisse für das Werk
Die zentrale Frage lautet: Welche (bestenfalls neuen) Rückschlüsse können wir auf literarische Werke ziehen, wenn wir der Vorgehensweise des Literaturtourismus folgen und die Orte der Fiktion direkt auf die Orte der real existierenden Wirklichkeit übertragen?24 Die praktische Vorgehensweise orientiert sich zunächst an der Gleichung: Ausgehend vom Originaltext erfolgt eine eingehende Analyse der Berührpunkte zwischen seinen fiktionalen Schauplätzen und den entsprechenden, real existierenden Orten, die mit der Biographie des Autors in Verbindung stehen. In einem zweiten Schritt wird nachvollzogen, wie jene aus beiden Elementen zusammengesetzte Szenerie auf den Plot einwirkt. Die Ergebnisse dieses Zweischritts können bereits neue Schlaglichter auf einen einzelnen betrachteten Text werfen; beschäftigt man sich mit den Werken verschiedener Autoren, so spielen auch deren biographische und literarische Beziehungen sowie die Korrelationen zwischen den jeweiligen Schauplätzen eine Rolle. Inwiefern sind ähnliche literarische Kulissen auf ähnliche autobiographische Momenta zurückzuführen, und inwiefern produzieren die beiden Komponenten im Zusammenspiel ähnliche Texte? Die Grenzen der beiden Summanden der oben aufgestellten Gleichung fließen im Sinne des Serapionischen Prinzips ineinander, und das Prinzip begründet auch die primäre Textauswahl für das Vorhaben. Man kann sich nicht auf jene Autoren beschränken, die autobiographische Elemente in ihrem Werk verarbeitet haben, denn, so die Grundthese: das macht ein jeder Autor. Doch es klang bereits an, dass E.T.A. Hoffmann sich dieser Tatsache besonders bewusst war und es auch nicht scheute, sie offen einzugestehen. Abgesehen von den autobiographischen Bezügen in der Rahmenhandlung der Serapions-Brüder hat er auch in die Szenen zahlreicher anderer Werke Lokalkolorit und Erfahrungen aus seinem Leben einfließen lassen; um einen Begriff von der Fülle dieser Bezüge zu erlangen, genügt es, in den Kommentarteilen der DKV-Ausgabe nach der Überschrift ›Biographischer Hintergrund‹ zu suchen – alleine im Band der Nachtstücke wird man in sechs Fällen fündig.25 Weitere Beispiele sind die ironische Verarbeitung der Affäre Julia Mark im Berganza und den Abenteuern der Sylvester-Nacht26