eine Schnapsflasche mit grünem Etikett von einem Regal, stellte zwei gleich große Gläser vor sich hin und füllte sie. »Hier«, sagte er und schob Stenka ein Glas hin, »trink etwas. Dafür brauchst du mir nichts zu geben.«
Beide Männer reckten den Hals, legten den Kopf zurück und tranken. Nachdem der Gastwirt einen Augenblick aus dem Fenster gesehen hatte, sagte er, weit über die Tischplatte gebeugt: »Die Volksmiliz hat sicher wieder etwas vor. Vorgestern nacht wurden fast alle Lehrer verhaftet. Die neue Regierung räumt mächtig auf. Heute morgen waren bereits die ersten Prozesse. Man sagt, daß Kinder als Hauptzeugen aufgetreten seien.«
Stenka sah unbeweglich auf den Erzählenden. Die Finger der linken Hand hatte er unter der Schnur des Pappkartons eingeklemmt. Roskow stellte die Flasche wieder in das Regal, zog das weiche Tuch aus der Tasche und betupfte seine Bartflechte.
Unter dem Tuch hervor schlichen sich seine Worte: »Kinder haben gegen ihre Lehrer ausgesagt. Es sollen die dümmsten gewesen sein, die mit den einfachsten Zahlen und Worten nicht fertig werden. Sie sollen sich an ihren Lehrern für die Prügel gerächt haben, die sie wegen ihrer Dummheit und Faulheit empfangen hatten. Das hängt wohl auch mit der neuen Aufklärung zusammen.«
Roskow hatte diese letzten Worte sehr leise gesprochen. Der Russe konnte sie nicht richtig verstehen und fragte: »Aufklärung?«
»Die Aufklärung der Kinder«, antwortete Roskow, »die von der Regierung betrieben wird. Die Kinder sollen achtgeben auf ihre Lehrer, damit diese keine abgestandenen, gefährlichen Dinge lehren. – Sag mal, du hast in einem Sägewerk gearbeitet?« Stenka zuckte zusammen. »Ja«, sagte er, etwas betroffen, »was soll das denn? Warum fragst du mich das?«
Roskow lachte, als er merkte, daß der Mann bei seiner Frage erschrak.
»Du hast Hände, die viel eher einem Lehrer gehören könnten als einem Holzarbeiter. Ein Holzarbeiter kann mit seinen Händen fast diesen Tisch hier zudecken. Hast Du überhaupt Schwielen? Es laufen heutzutage viele in Finnland herum, die von der Volksmiliz gesucht werden.«
»Ich habe zwei Jahre an der Kreissäge gearbeitet. Später mußte ich in der Verwaltung des Sägewerks die Löhne ausrechnen«, antwortete Stenka ruhig.
»Hm«, machte Roskow und hob das weiche Tuch vom Boden auf, das ihm heruntergefallen war, als er es in die Tasche stecken wollte. »Kannst du denn gut rechnen? Ich will dich nicht ausfragen. Du kannst beruhigt sein. Aber vielleicht kann ich dir eine gutbezahlte Stelle verschaffen. Das heißt, der Mann, der dich beschäftigen soll, ist fett und geizig. Du mußt daher viel verlangen. Er wird dich zweimal hinauswerfen. Tue dann so, als ob du gehen wolltest. Dann wird er dich zurückrufen. Er braucht jemanden, der gut rechnen kann. Dann kannst du dir einen besseren Rock kaufen und zu deinen Schweiflilien fahren. In einem Sägewerk kann man doch nichts verdienen.« Roskow stand auf und ging an das Fenster. Er sah lange zu den mächtigen Kiefern hinüber, dann drehte er sich plötzlich um, so daß der Russe zusammenfuhr, und fragte mit hochgezogenen Brauen:
»Na, was sagst du zu meinem Vorschlag?«
Stenka ließ die Schnur des Pappkartons los. Wenn er nicht einginge auf diesen Vorschlag, oder wenn er nicht zumindest bereit wäre, ihn zu prüfen, würde er den Gastwirt noch mißtrauischer machen. Er konnte sich nur nicht erklären, warum Roskow ihm solch ein Wohlwollen entgegenbrachte.
»Einverstanden?« fragte Roskow wiederum.
»Ja«, sagte Stenka, »ja. Aber – was soll ich tun? Wer ist mein Chef? Wo wohnt er?«
»Er wohnt ganz in meiner Nähe. Er ist geizig und fett. Du kannst Leo zu ihm sagen, so nennen wir ihn alle. Als Matowski erschossen wurde, erwarb Leo das Blumengeschäft. Er hatte noch nie etwas mit Blumen zu tun gehabt, aber vielleicht kannst du ihm behilflich sein, damit er etwas besser zurechtkommt. Du hast doch selber zu Hause Schweiflilien und diese – Natternköpfe, wie du sagtest. Leo besitzt das einzige Blumengeschäft in Pekö. Es läßt sich also etwas machen; es gibt wenig Blumen in Finnland. Nur, wie gesagt, er ist geizig und fett.«
Der Russe erhob sich und sah an Roskow vorbei auf das grüne Etikett der Schnapsflasche. Er wollte sagen, daß ihm die Entscheidung, für die nächste Zeit in Pekö zu bleiben, nicht ganz leicht falle und er sich daher einige Bedenkzeit ausbitten müsse. Was seinen Besitz angehe, so brauche er natürlich keine Sekunde, um sich zu besinnen, denn sein ganzes Eigentum habe er, sogar bequem, in dem Pappkarton unterbringen können. Er überlegte sich, wie er das Roskow beibringen könnte, als die Tür des Schankraumes aufgestoßen wurde und ein junger, untersetzter, rothaariger Mann eintrat. Ohne Stenka eines Blickes zu würdigen, ging er auf Roskow zu, reichte diesem wortlos die Hand und deutete mit dem Gesicht auf eine Flasche. Roskow zog die bezeichnete Flasche aus dem Regal und goß ein Glas voll. Der Rothaarige trank aus und sah sich um. Er streifte Stenka mit einem flüchtigen Blick aus braunen Augen, wandte sich dann wieder an Roskow und fragte, mit dem Daumen nach hinten deutend: »Wer ist denn das? Kennst du ihn?«
Roskow fuhr auf und sagte laut: »Es ist gut, Erkki, daß du gerade jetzt gekommen bist. Das ist ein Russe, der sehr viel von Blumen versteht. Er zieht selber zu Hause Natternköpfe. Bisher hat er die Löhne in einem Sägewerk ausgerechnet. Er kann aber auch Blumenkästen anfertigen und Beete anlegen. Ich dachte, diesen Mann kann Leo gebrauchen.«
Der Russe erhob sich und ging mit kleinen Schritten auf die Männer zu.
»Selbstverständlich bin ich einverstanden«, sagte er und nahm Erkkis Hand. Roskow lächelte. Die Sonne stieg durch das Fenster und setzte sich auf die Schnapsflaschen. Die Sonne war fast überall: sie schien zu gleicher Zeit in Leos Blumenladen und auf Roskows Bartflechte, sie spazierte über den Marktplatz von Pekö, am Gefängnis vorüber, wo die Lehrer eingesperrt waren, sie zwängte sich in die frisch getünchten Wachstuben hinein und unterbrach den Schlaf eines Korporals der Volksmiliz. Sie klemmte sich in die Visiere der Gewehre, sprang über Gräber, über neue und alte, und das alles unhörbar, geräuschlos, scheinbar ein wenig neugierig, aber harmlos, verspielt, und wie in bester Laune.
»Also«, sagte Roskow und legte seine Arme den Männern auf die Schulter, »du nimmst Stenka mit, Erkki.« Stenka anblickend fügte er als Erklärung hinzu: »Erkki arbeitet schon eine gewisse Zeit bei Leo. Er kann dich deshalb gleich hinführen.« »Leo ist im Augenblick nicht zu Hause«, meinte Erkki. »Er wollte zum Bürgermeister. Er sagte, er habe einiges mit ihm zu besprechen. Ich weiß aber nicht, was sie zu besprechen haben.« Anscheinend wollte Roskow nun mit einem Male die beiden loswerden. Er schob sie zur Tür und reichte dem Russen seinen Pappkarton.
»Der Karton ist sehr leicht. Ist das alles, was du besitzt? Na, bleibe bei dem, was ich dir vorhin sagte, dann wirst du bald einen neuen Rock haben und deine Blumen besuchen können. Ich muß jetzt noch einige Briefe schreiben. Ihr entschuldigt mich doch, nicht wahr? Übrigens ist es auch schon Zeit, zu schließen. Wir sehen uns bald wieder, bestimmt, bestimmt.«
Stenka und Erkki standen auf der Straße und hörten, wie die Tür hinter ihnen verschlossen wurde.
Erkki blickte vorsichtig von der Seite auf Stenka. Ihm kam das Gesicht mit den schrägstehenden Augen bekannt vor. Er glaubte, diesem Mann vor langer Zeit begegnet zu sein, aber er wußte nicht, wann. Hastig forschte er in seinen Erinnerungen, doch das Gedächtnis ließ ihn im Stich. ›Vielleicht irre ich mich auch‹ – dachte er, ›vielleicht lasse ich mich durch die Ähnlichkeit dieses Mannes mit dem, den ich meine, täuschen.‹ Aber als Stenka ihn ruhig anblickte und ihn fragte, was nun zu tun sei, und als er dabei sein Ohrläppchen zwischen die Finger nahm, da hatte Erkki die Gewißheit, daß er sich nicht getäuscht hatte. Wenn das Gedächtnis nur funktionieren wollte!
Ein Schuß zerriß den Abend. »Was war das?« fragte Stenka. »Nichts Besonderes. Es wird viel geschossen. Ich glaube, es ist das beste, wenn wir zu mir gehen.« Erkki streckte seine kurzen, dicken Finger nach dem Pappkarton aus, um seinem Begleiter die Bürde abzunehmen. Dieser schüttelte den Kopf.
»Nein, danke, da ist nicht viel drin. Ein Hemd und ein paar Kleinigkeiten. Das ist zusammen nicht einmal so schwer wie ein Habicht. Wohnst du mit Leo in einem Haus?«
»Ja.«
»Wohnt