Siegfried Lenz

Es waren Habichte in der Luft


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Schreibmaschine saß, ernst und fleißig, übermüdet, den weißen Nacken herabgebeugt.

      Der Russe setzte sich auf eine Kiste, beide Männer schwiegen. Lautlos zwängte sich die Dämmerung durch das Fenster. Der Spiegelscherben auf dem nur zur Hälfte eingeschlagenen Nagel erblindete. Draußen war es still und warm. Nebenan weinte die Witwe. Ihr heiseres, feuchtes Heulen erstickte regelmäßig für einen Augenblick – wahrscheinlich biß sie in ihre Bettdecke – und drang dann wieder durch die dünne Seitenwand.

      Da hörten die Männer weithin hallende Schritte, Schritte, die von einem Riesen herrühren konnten. Jemand kam über den Marktplatz.

      »Das ist Leo«, sagte Erkki halblaut und erhob sich von seinem Bett.

      Wenige Sekunden später wurde unten die Tür aufgerissen. Stenkas Blut überfiel ein Schauer. Er glaubte jetzt schon den mächtigen Atem des Mannes spüren zu können, für den er arbeiten wollte. Dieser Atem erfüllte das ganze Haus. Das heisere Heulen der Witwe erstarb plötzlich und war nicht mehr zu hören. Erkki ging langsam zur Tür, als ob er darauf wartete, hinuntergerufen zu werden. Auch Stenka erhob sich und zog seinen Karton unter dem Tisch hervor, um ihn zur Hand zu haben. Da erklang auch schon eine Stimme, die so viel Gewalt hatte, daß sich die Türen fast von selber öffneten. Es war nur ein einziger Schrei, dazu ausreichend, einem Menschen den letzten Fetzen Boden unter den Sohlen fortzuziehen:

      »E-r-k-k-i!«

      Der Gerufene riß die Tür auf und sprang die ächzende Treppe hinunter. Am Treppenabsatz stand Leo: an die zwei Meter hoch, fett, kleine, gerötete Augen, die immer in Bewegung waren, tellergroße, fleischige Hände, dicke Lippen, schlecht rasiertes Doppelkinn und geöltes Haar. Er trug riesige Schuhe – Roskow sagte dazu Kindersärge –, weite, braunkarierte Hosen und eine nach innen gekehrte Pelzjacke.

      Da Leo mit seinem Körper den Zugang zum Flur versperrte, blieb Erkki dicht vor ihm auf der Treppe stehen.

      »Na, du Beuteltier«, sagte Leo (er liebte zoologische Vergleiche), »hast du die Hyazinthen hineingetragen?«

      »Ja«, antwortete Erkki.

      »Hast du ihnen frisches Wasser gegeben?«

      »Ja.«

      »Gut, lassen wir das. Warum solltest du nicht die Wahrheit sagen. – Ich habe mit dem Bürgermeister gesprochen. Er will heute nacht an den Booten arbeiten … unten … am See … Du wirst auch hingehen … um ihm zu helfen natürlich. Du wirst Werkzeug mitnehmen: Messer, Bohrer, Hammer … Gut, lassen wir das. Etwas Neues?«

      »Ja.«

      »Wieso?« fragte Leo und verlagerte das Gewicht seines Körpers von einem Bein auf das andere. Erkki versuchte, den kleinen, geröteten Augen auszuweichen; er stützte sich auf das Treppengeländer.

      »Da ist jemand, der viel von Blumen versteht. Er zieht selber zu Hause Natternköpfe. Er will bei uns arbeiten. Bisher hat er die Löhne in einem Sägewerk ausgerechnet.«

      »Können wir brauchen … Wo ist er … was will er haben?« In diesem Augenblick trat Stenka, der das Gespräch mit angehört hatte, aus Erkkis Zimmer und stieg langsam, den Pappkarton in der Hand, die Treppe hinunter.

      Leo trat einen Schritt zur Seite, um dem Fremden den Weg auf den Gang frei zu machen. Er sagte zu Erkki:

      »Du kannst das Werkzeug zusammensuchen … Du mußt dich beeilen …«, und zu Stenka gewandt:

      »Komm in den Laden.«

      Der Russe folgte ihm schweigend. Leo zündete eine Kerze an und befestigte sie mit ihrem eigenen Wachs auf einer Tischdecke. Die Blumen warfen sonderbare Schatten an die Wand. Stenka betrachtete sie lange.

      »Also«, sagte Leo mit seiner mächtigen Stimme, »du willst bei uns arbeiten? Wir brauchen einen Mann, der etwas von Blumen versteht und rechnen kann. Aber lassen wir das. – Blumen sind empfindlich wie kleine Vögel oder wie junge Mädchen. Man kann sie im Vorübergehen knicken. Oh, so eine Handvoll Blumenfleisch!«

      Leo griff mit seiner riesigen Hand nach einer Waldtulpe, riß ihr den Kopf ab, preßte diesen auf die dicke Oberlippe und schloß die Augen.

      »Die sind immer nackt«, röchelte er, »nackt und betäubend. Da möchte man krepieren vor Wonne, einfach umfallen und liegenbleiben. Oh, diese duftenden Biester. Allen möchte ich die Köpfe abreißen, allen!«

      Seine Augenlider zuckten. Stenka blickte ihn aus schrägstehenden dunklen Augen ernst an.

      »Wer die nur gemacht hat«, grunzte Leo. »Jemand wird sie wohl erschaffen haben … ganz bestimmt hat die jemand erschaffen … sonst wären sie ja nicht da. Fragt sich nur, wer diesen Einfall hatte … diesen seltenen Einfall … ein Schullehrer war es nicht, nein … aber die heilige Jungfrau … Manche Blumen haben Stiele wie Mädchenschenkel.« Er stockte einen Augenblick, zog aus einem Topf eine Blume mit langem Stiel hervor und wand ihn sich um das feiste Handgelenk.

      »Da ist gar kein Unterschied … absolut nicht!«

      Auf einmal öffnete er die Augen, kratzte sich in der Achselhöhle und sah mit einem stieren Blick auf Stenka.

      »Gut«, gröhlte er, »lassen wir das. Wir brauchen einen Mann, der etwas von Blumen versteht … Du verstehst etwas, das sehe ich dir an deinem Kopf an … Was willst du haben … an Geld, meine ich?«

      Stenka erinnerte sich, was Roskow ihm geraten hatte, aber er beschloß, diesen Ratschlag nicht zu beherzigen und nur eine ausreichende Summe zu fordern.

      »120«, sagte er leise.

      »Was?« schrie Leo, »120? Dafür bekomme ich drei Männer! Lassen wir das. Nimm deinen komischen Karton und verschwinde. Los, los!«

      Als Stenka an der Tür stand, rief ihn Leo zurück.

      »Ich gebe dir hundert«, sagte er.

      »Gut.«

      »Na also! Du fängst morgen schon bei uns an. Wir stehen früh auf, aber man gewöhnt sich daran. Du wirst zu Erkki hinaufgehen und in seinem Zimmer wohnen. Er ist ein guter, fleißiger Junge. Ich glaube, daß du mit ihm gut auskommen wirst. Nebenan wohnt eine Frau, die euch nichts anzugehen hat.«

      Er zerrieb den Kopf der Waldtulpe zwischen den Händen und warf mit dem Rest nach dem Schatten einer Pfingstrose. Dann rief er so laut, daß über Stenkas Rücken eine Gänsehaut lief:

      »E-r-k-k-i!«

      Die Tür wurde aufgerissen, Erkki stand im Laden. Anscheinend hatte er draußen auf dem Gang gelauscht.

      »Wie heißt du eigentlich?« fragte Leo den Neuen.

      »Stenka.«

      »Gut. Du wirst ihm aus Kisten ein Bett machen, Erkki … Aber nicht jetzt … Er kann heute in deinem Bett schlafen … Du gehst ja fort … Du …«

      Seine Rede wurde unterbrochen. Es tönten kräftige Schläge an der Haustür. Ein geringschätziges Lächeln huschte über Leos Gesicht. Die Schläge wurden immer stärker. Bald mußte das Holz zersplittern.

      »Öffne die Tür.«

      Es klackte, als Erkki den Schlüssel umdrehte. Der Schlüssel war rostbraun und groß, man hätte ihn als Waffe verwenden können. Stenka hielt den Karton in der Hand und blickte auf die Türöffnung. Zugluft schoß herein. Der spitze Feuerschein der Kerze fuhr erschrocken zurück, begann aufgeregt und wild zu flackern und warf kleine, irre Reflexe auf Leos geöltes Haar. Erkki trat gegen die Wand des Ganges zurück. Aus der Dunkelheit tauchte ein Mann in der engen Uniform der Volksmiliz auf und trat zögernd, einen mattglänzenden Revolver in der Hand, in das unruhige Licht der Kerze. Hinter ihm bemerkte Stenka die Silhouetten von zwei anderen Männern, die vor der Türöffnung stehen blieben.

      Leos kleine, gerötete Augen funkelten den Angehörigen der Volksmiliz böse an, der den Revolver in eine knirschende Ledertasche schob, als er den Besitzer des Blumenladens erkannte.

      »Was