Krone-Meldung schlägt bei mir ein: Todernst ist die Lage nicht nur in Italien, sondern auch bei uns. Christian W. (50), ein bislang kerngesunder Manager in der Nähe von Wien, erzählt von seinem zweiwöchigen Kampf mit seiner Corona-Virus-Infektion. „Man kämpft, bekommt keine Luft, es fühlt sich an, als ob der Brustkorb brennt. Husten, husten und wieder husten. Im Spital keine Gesichter, nur Masken. Man stirbt alleine, weil dich niemand besuchen darf. Ich Zimmer daneben musste ich den Todeskampf eines Patienten mitanhören: Zwei Tage Stöhnen, dann hat er aufgegeben …“. Am Sonntag wird der Mann aus dem Spital entlassen. Er ist auf dem Weg der Besserung, aber noch sehr geschwächt.
Ich bin geschockt.
Dennoch, es gibt auch Zeichen der Hoffnung. Die Kurve der Neuinfizierten in Österreich flacht ab. Mit heutigem Datum von 40 auf 21 Prozent. Bei 3.611 Covid-19-Infizierten gibt es 16 Todesfälle. Erstaunlich wenig. Nahezu niemand aus der Risikogruppe. Anders in Italien und Spanien.
Ich beende meine Presseschau und entscheide mich für mein heutiges Tagesprogramm. Ich will in meinem Büro abstauben und darüber hinaus, was ich schon lange vor mir hergeschoben habe, auch „ausmisten“! Die Corona-Krise hat mich eine gute Selbst- und Gedankendiszplin gelehrt, daher grüble ich nicht länger herum und begebe mich ins Büro. Eigentlich ist das Aussortieren mein Job, das Abstauben übernimmt meine Frau. Sie sieht, dass mir das Ganze schwerfällt und unterstützt mich. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, alles ist so überladen mit Erinnerungen, es gibt kaum Platz und ich fühle mich eingeengt. Wie soll ich das schaffen, und wohin mit allem? Ich habe keine Ahnung mehr, was sich da alles im Kasten verbirgt. Irgendwie gibt mir der vertraute Kram Sicherheit, es ist ja auch jede Menge emotionale Verbundenheit mit den Dingen mit dabei. Andererseits hat sich Vieles überlebt. Ich beginne bei den leichten Sachen, nehme sie in die Hand, tauche noch einmal ein in die Erinnerung und gebe sie in eine Schachtel. Manches zeige ich auch meiner Frau, und wir tauschen gemeinsam Erinnerungen aus. Aber es kommt einiges zusammen, das ich wirklich gut loslassen und abschließen kann. Mein Zimmer wird luftiger, die aussortierten Sachen lagern im Nebenraum. Für heute mache ich Schluss. Ich fühle mich, als ob ich schwere körperliche Arbeit geleistet hätte. Und weinerlich, leer, depressiv. Ich habe vertraute Dinge weggegeben und spüre mich wie in einem Entzug. Doch ich stehe dazu, es ist gut so.
Ich nehme die Quarantäne zu Hause als Chance und werde heute an meinem Buchprojekt „Als die Welt stillstand“ weiterarbeiten. Mittlerweile ist mir klar, dass das Buchschreiben einem „Marathonlauf“ ähnelt. Wie bei den Filmen beginne ich auch hier mit dem Materialsammeln, Sichten und Auswählen. Ich erzähle alles aus meiner Perspektive. Wie eben auch beim Filmen. Das ist mein Markenzeichen. Allerdings wiegt das Buchprojekt die Verluste der Filmarbeit nicht auf. Ich sitze am Trockenen. Das Corona-Virus stellt mein Leben auf den Kopf. Einsam fühle ich mich derzeit nicht, aber leer.
17.0 Uhr. Wir, das sind meine Frau, mein Sohn Bernhard und ich, machen etwas Uraltes. Etwas, das lange in Vergessenheit geraten ist und das wir vor vielen Jahren, als die Kinder noch klein waren, leidenschaftlich gemacht haben. Spielen! Wir wählen „Das Neue Alpen DKT“, eine Variante des DKT mit Finten und Überraschungen. Diese Spielart mildert den kapitalistischen Gedanken deutlich. Das Ende ist nicht dann, wenn man pleite ist, sondern wenn man die Schuldscheine, die man zu Spielbeginn bekommt, so schnell wie möglich an die Bank zurückverkaufen kann.
Ich bin richtig gespannt, wie es uns geht und stelle fest, dass es uns gefällt. Morgen spielen wir wieder. Ein schöner Zeitvertreib, und das ist das Gebot der Stunde. Das ist ausbaufähig.
2 Den Film „ARMUT IST BESIEGBAR – Wege aus Diskriminierung und Sklaverei in Indien“ können Sie auf Kurt Bauer Youtube Kanal sehen. (Siehe Filmliste am Ende des Buches.)
Tagebucheintragung 22.04.2020
DAS CORONA-VIRUS MACHT SICHTBAR
Wie schon erwähnt, hat es wirklich eine Weile gedauert, bis ich zum Betroffenen in der Corona-Krise wurde. Zu Hause habe ich mich inzwischen organisiert. Aber ich musste realisieren, dass eine halbes Jahr Vorarbeit für geplante Filmtätigkeiten verloren ist.
Für September hatte ich meine Zweiten Salzburger Armutsfilmtage geplant mit meinem neuen DOKU-Film „Der Kampf gegen die Armut“ (Untertitel: Der Weg aus der Armut und dem Kastensystem in Indien.). Ich habe keine Ahnung, wie das gelingen soll. Außerdem wollte ich Gäste aus Indien einladen, die meine Hauptdarsteller*innen im Film waren. Die Erstaufführung in Indien wird im Oktober sein. Das könnte sich ausgehen. Einnahmen bleiben aus, und von der finanziellen Situation brauche ich nicht zu reden. Nach der Krise werden meine Partner sicher nicht als Erstes daran Interesse haben, mit mir einen Film zu machen. Ich weiß momentan nicht weiter. Ich muss meine finanzielle Basis ausbalancieren.
Das tut mir richtig weh. Ich habe einen Entzug, vermutlich wie viele andere Menschen derzeit auch. Bewegungsbeschränkung, Kontaktentzug, Arbeitsentzug, Wirkungsentzug, Gewohnheitsentzug. Ich stecke in einer emotionalen Ohnmacht. Corona macht mir das sichtbar. Das gefällt mir ganz und gar nicht. Ich fühle mich kaltgestellt.
Tagebucheintragung 24.03.2020
Wie schon gewohnt, steht heute Aufräumen weiter am Programm. Zuerst kommt der Fußboden an die Reihe. Den will ich gründlich saugen. Hat geklappt. Jetzt beginne ich mit dem Aussortieren. Dazu muss ich jedes Ding, jedes Buch, jedes Kabel, uralte Manuskripte und lieb gewordene Erinnerungen aus einer Schachtel herausnehmen, begutachten, meist abstauben und dann entsorgen oder einem neuen Platz zuordnen. Hier spießt es sich, wenn ich mich davon trennen soll.
Erinnerungen tauchen wieder auf, die ausgelöst werden. Darüber schlafe ich noch eine Nacht. Irgendwie werden die Sachen nicht weniger. Beim Wegwerfen bin ich nicht entschlossen genug und ich habe das Gefühl, mich im Kreis zu drehen. Dafür brauche ich eine Lösung. Für heute reicht es aber.
10.30 Uhr Ich lasse jetzt das Aufräumen sein und gehe meine Runde im Freien. Immerhin scheint die Sonne, aber es ist eisig kalt.
Mit meinen Gedanken bin ich heute morgen bei meinem Hörbuch. Ich höre leidenschaftlich gerne Hörbuch, es birgt für mich eine andere Qualität als ein Buch selber zu lesen. Spazierengehen und Hörbuchhören, das ist ein Genuss. Da macht mir sogar der scharfe, kalte Wind wenig aus. Außerdem lässt es mich die Corona-Zeit vergessen.
Der Titel meines Hörbuches lautet „Der freie Hund - Commissario Morelli ermittelt in Venedig.“ Dieser Krimi ist unglaublich spannend, wird von einem hervorragenden Sprecher gelesen und ist zeitnah. Er erzählt das Kreuz mit den Kreuzfahrtschiffen, die gerade dabei sind, die Lagune in Venedig zu ruinieren. Aus der Gruppe von Student*innen, die sich dem entgegenstellen, wird der Anführer der Gruppe getötet. Das löst eine intensive Morduntersuchung aus. Der Commissario erfährt die Argumente der Studierenden. Da sind die 3000 bis 4000 Touristen pro Schiff, die die Straßen in Venedig verstopfen. Sie kaufen nichts ein außer billige Glasimitationen aus China und ruinieren so das alte Glasbläserhandwerk in Murano. Sie essen am Schiff, weil sie dort Vollverpflegung haben und verursachen einen Haufen Müll. Es sind schwimmende Hochhäuser, die ihre stinkenden Abgase über Venedig verbreiten und alles, das unter Wasser ist, kaputt machen. Sie sind der Tod der Lagune. „Warum lässt die Stadtverwaltung die Schiffe hier landen?“, fragt eine Polizistin den Direktor. „Es geht um einen wirtschaftlichen Wert für die Hafengesellschaft und Venedig von 33,6 Mio. Euro pro Jahr. Wir verwalten sieben multifunktionale Anlegestellen, sechs große Parkplätze. Seit dem Gründungsjahr haben wir 30 Mio. Gäste in Venedig begrüßt. Der Gewinn sind stolze 3,6 Mio. Euro pro Jahr. Wir können zwei Kreuzfahrtschiffe mit der Kapazität von 4000 Gästen gleichzeitig abfertigen. Wenn man die Kreuzfahrtschiffe nicht hereinlässt, dann trifft das 5000 Arbeitsplätze, und das könnte Venedig ruinieren.“
Die Geschichte beleuchtet im Moment das Geschehen in Venedig, wieder lese ich in der Zeitung „Mutter Natur erholt sich“. In Venedig ist das Wasser sauber, und die Fische tummeln sich darin. Ohne das Corona-Virus hätte dieser Beweis, wie schnell sich die Natur regeneriert, niemals angetreten werden können. Ich bin dafür, dass die Kreuzfahrtschiffe nie mehr nach Venedig hineinfahren dürfen. Es gibt nun kein Argument mehr dafür, aber viele dagegen. Ein Stopp der Profitgier! Die Natur hat Vorrang.
Fast zeitgleich sehe ich in der Nachrichtensendung