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Matthias Heine
Das ABC der Menschheit
Eine Weltgeschichte des Alphabets
Hoffmann und Campe
Eine Scherbe in einem Grab
Wie alt ist das Alphabet? Und wo wurde es erfunden? Die Antwort auf diese Fragen hängt unter anderem davon ab, was Wissenschaftler noch von den kaum leserlichen Inschriften auf einer 3500 Jahre alten Kalksteinscherbe entziffern.
Als der Archäologe Nigel Strudwick mit seinem Team in den neunziger Jahren anfing, das Grab des ägyptischen Schatzmeisters Sennefer mit der Nummer TT99 im Westen von Theben, der alten Hauptstadt des Pharaonenreiches, wissenschaftlich zu untersuchen, war mit bösen Überraschungen, wie sie in Gruselgeschichten zuverlässig in ägyptischen Gräbern lauern, nicht zu rechnen: keine Mumien, die plötzlich wieder lebendig und sehr wütend sind, keine Todesfallen aus sich unvermittelt herabsenkenden Steinquadern, die den Rückweg ins Freie abschneiden, und keine tödlichen Keime, die alle Ausgräber in kürzester Zeit hinwegraffen. Die Grabkammer hatte nämlich nach dem Untergang des ägyptischen Reiches und der römischen Provinz Aegyptus mehr als tausend Jahre lang als Wohnraum für koptische Christen gedient – die letzten von ihnen trieben die ägyptischen Behörden erst 1907 mitsamt ihren Webstühlen hinaus, bevor sie die Kammer mit einer massiven Eisentür verschließen ließen. Strudwicks Aufgabe bestand deshalb zu einem nicht unwesentlichen Teil darin, den Schutt aus Antike, Mittelalter und Neuzeit von den altägyptischen Hinterlassenschaften zu scheiden. Er fand keine Pharaonenmasken, keine Sarkophage und kein Gold. Aber er fand 1995 die älteste ABC-Fibel der Welt.
Sie steht auf einem handtellergroßen Ostrakon aus Kalkstein. Ostraka, so der Plural, sind Scherben aus Ton, manchmal auch Muscheln, Eierschalen oder eben Kalksteinfragmente, die man in der Antike anstelle des teuren Papyrus als billiges Schreibmaterial für Notizen, Schulaufgaben, Abrechnungen, Quittungen und kurze Briefe verwendete. Texte wurden mit Tinte geschrieben oder eingeritzt. Beim sprichwörtlich gewordenen Scherbengericht im klassischen Athen stimmte man auf solchen Ostraka über die Verbannung von Mitbürgern ab.
23 Jahre lang knackte keiner das Geheimnis der Zeichen auf dem Thebener Ostrakon. Dann erkannte Thomas Schneider, Professor für Ägyptologie an der University of British Columbia in Kanada, 2018 darin eine Art Merksatz für Sprachenlerner, in dem sehr wahrscheinlich vier Wörter mit den alten Äquivalenten unserer Buchstaben A, B, C und D beginnen. Der in Göttingen geborene Schneider ist sicher: Obwohl die Schrift Hieratisch ist – die neben den Hieroglyphen existierende, mit diesen eng verwandte ägyptische Schreibschrift –, scheinen alle Wörter nichtägyptischer Herkunft zu sein, die meisten davon semitischen Ursprungs.
© Fotos von Anthony Middleton; © Nigel Strudwick
Das Kalksteinfragment, auf dem Schneider und Haring die uralten Alphabet-Sequenzen entdeckt haben.
Auf einer Seite des Kalksteins stehen hieratische Symbole, die die semitischen Wörter bibiya-ta (»Schnecke«), garu (»Taube«) und da’at (»Papierdrachen«) repräsentieren. Vor 3000 Jahren war das G an der Stelle des heutigen C – im griechischen und kyrillischen Alphabet steht es heute noch dort –, erst die Etrusker haben aus dem G ein C gemacht. Von ihnen übernahmen es die Römer, und die vererbten es uns. Das hieße, die Anfangsbuchstaben der genannten Wörter stünden in der uns bekannten Ordnung.
Lange bereits wusste man: Schon in der Frühzeit begannen semitische Alphabete mit der Buchstabenfolge ABGD oder zumindest so ähnlich – Wissenschaftler sprechen von der Abgad-Sequenz. Allerdings stand das A damals noch nicht für den Vokal, den es heute repräsentiert – die semitischen Schriften waren und sind reine Konsonantenschriften –, sondern für ein anderes Phonem: einen stimmlosen Verschlusslaut, den Glottisschlag, der auch im Deutschen existiert und den unser Bewusstsein als phonetisches Trennungssignal versteht. Ohne ihn würde das Spiegelei genauso klingen wie die Spiegelei.
Vor den drei Wörtern, die Schneider sicher entziffert hat, stehen Symbole, die schwerer zu interpretieren sind. Aber es könnte die hieratische Darstellung des Wortes ’elta’at (»Gecko« oder »Eidechse«) sein, das mit einem stimmlosen Verschlusslaut beginnt. Es sei möglich, dass die Zeichen den Satz »und die Eidechse und die Schnecke und die Taube und der Drachen« bilden und dass dieser Merksatz dem Schreiber helfen sollte, sich die korrekte Reihenfolge des Vorläufers unseres heutigen Alphabets zu merken. Wenn das stimme, so der Ägyptologe, wäre es »der erste historische Nachweis für ›unsere‹ Alphabetsequenz«. Doch damit betritt er den schwankenden Boden der Interpretation, wie er selbst einräumt.
Die Hieroglyphen waren keine Alphabetschrift, sondern eine piktographische Schrift mit Elementen von phonetischer Schreibung Die hierarische Schrift hatte die gleiche Struktur, aber hier traten aus Linien zusammengesetzte Zeichen anstelle der Bildzeichen, die identifizierbare Dinge zeigten. In Alphabetschriften steht dagegen idealerweise jedes Zeichen für einen einzelnen Laut, und mit relativ wenigen Zeichen lassen sich alle Wörter einer Sprache schreiben, indem man sie aus den Lautzeichen zusammensetzt.
Die erste Alphabetschrift – noch ohne Zeichen für Vokale – wurde vor etwa 4000 Jahren im ägyptischen Reich oder seinem nordöstlichen Grenzgebiet entwickelt; darüber herrscht Konsens. Die ältesten allgemein anerkannten Zeugnisse dieser Vorläufer, aus denen sich unser lateinisches Alphabet und alle anderen Alphabetschriften der Welt entwickelt haben, stammen aus der Zeit zwischen 1800 und 1500 v. Chr. Ihre Erfinder – auch daran zweifelt niemand – sprachen eine semitische Sprache. Das Altägyptische selbst gehörte nicht dieser Sprachfamilie an, sondern war ein eigenständiges Idiom innerhalb der afroasiatischen Familie.
Die genannten ältesten Schriftfunde geben aber noch keine Hinweise darauf, in welcher Reihenfolge die Buchstaben des Uralphabets angeordnet waren. Hätte Schneider recht mit der Interpretation der Inschrift des Kalkstein-Ostrakons aus Theben, dann wäre dieses Alphabet 300 Jahre älter als die bisher bekannten Listen von Buchstaben in der uns bekannten Alphabetreihenfolge.
Man kann ziemlich genau sagen, wie alt das Ostrakon ist, weil man weiß, wann der Mann lebte, in dessen Grab man es fand: Sennefer war nicht nur der Schatzmeister des Pharaos Thutmosis III. aus der 18. Dynastie, der von etwa 1483 v. Chr. bis 1425 v. Chr. lebte. Er war als eine Art Verwalter auch für außenpolitische Angelegenheiten zuständig. Und er hatte offenbar viel im Sinai zu tun, wo die Menschen nicht unbedingt Ägyptisch sprachen, sondern eine frühe Variante des Semitischen. In einem Tempel auf dem Hochplateau Serabit el-Chadim auf der Sinaihalbinsel zeigt ihn ein Wandrelief, gleich hinter dem Pharao stehend und die Göttin Hathor anbetend. Sie wurde als »Herrin des Türkis« verehrt. In Serabit el-Chadim wurde in mehreren Minen das wertvolle Mineral abgebaut. Die Ägypter benutzten Türkis als Schmuckstein; die Totenmaske des Pharaos Tutanchamun ist damit reichlich verziert. Die Arbeiter, Spezialisten und Aufseher, die in der Oase von 2200 bis 1200 v. Chr. schürften, waren Sprecher semitischer Sprachen. Wer immer mit ihnen Gespräche führte, konnte Kenntnisse ihrer Idiome gut gebrauchen. Es ist also möglich, dass Sennefer die alt-westkanaanäische Sprache verstand, die damals im Ostmittelmeerraum gesprochen wurde. Entweder er oder jemand aus seinem Umfeld könnte Merktafeln zum Üben niedergeschrieben haben. Es könnte auch jemand aus der multilingualen Schreiberelite gewesen sein, die die Verwaltung des ägyptischen Staates und seiner Provinzen benötigte. Oder einer der Handwerker, die das Grabmal ausgestalteten. Wie das Ostrakon in Sennefers Grab kam, wird nie mehr zu klären sein. Wenn die Scherbe ihm tatsächlich selbst gehörte, ließ er sie vielleicht in die Kammer legen, weil er stolz auf seine Kenntnisse war. Möglicherweise hatte er den Kalkstein auch nur als Souvenir mitgebracht.
Für die Hypothese, es handele sich bei dem Ostrakon um eine Art Sprachlehrbuch, spricht auch die andere Seite des Kalksteins. Dort hatte der Ägyptologe und Papyrologe Ben Haring von der Universität im niederländischen Leiden bereits 2015 die älteste nach Buchstaben geordnete Wortliste der Welt entdeckt. Die Wörter sind nach den Lauten sortiert, mit denen sie anfangen. Allerdings entspricht die Anordnung der Wörter auf der von Haring entzifferten