Matthias Heine

Das ABC der Menschheit


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ganz anderen Schriftsystem aufrechterhalten, wie die Chinesen bewiesen haben, aber seit der Erfindung und dem globalen Siegeszug des Alphabets hat sich kein Volk, das für seine Sprache eine Schrift brauchte, jemals mehr für eine Bilderschrift entschieden, wenn es die Wahl zwischen einer solchen und einer Alphabetschrift hatte.

      Die wahrhaft weltbewegende Erfindung verdanken wir einfachen Menschen. Westsemitische Söldner oder Bergbauexperten, die für die Ägypter arbeiteten, nahmen vor 4000 Jahren deren Hieroglyphen und machten daraus etwas ganz Neues. Der Schrifthistoriker Coulmas schreibt: »Die Semiten können nicht beanspruchen, die Erfinder des Schreibens zu sein, aber sie haben mehr als jedes andere antike Volk zur Perfektionierung der Technik, mit der man Sprachlaute mit sichtbaren Zeichen darstellen konnte, beigetragen. Die Schlichtheit des Systems und die kleine Anzahl seiner Grundzeichen machte es einfacher zu lernen. Dadurch, dass es als Schreibsystem einfacher und flexibler war als jeder seiner Vorgänger, bot das semitische Alphabet großes Potenzial für die Ausbreitung und Popularisierung der Fähigkeit zu schreiben.«

      Den Gang dieser Ausbreitung des Alphabets – oder besser gesagt: der vielen Alphabete, die alle aus dem Uralphabet entstanden sind – wollen wir mit diesem Buch nachzeichnen, um am Ende besser zu verstehen, dass wir, auch wenn wir eine banale SMS oder einen Einkaufszettel schreiben, in einer Kulturtradition stehen, die uns über Zwischenstufen am Hofe Karls des Großen, im alten Rom, Griechenland und den Häfen der Phönizier mit Menschen verbindet, die im Land der Pharaonen lebten.

      Pidgin-Hieroglyphen für die Fremden

      Das Alphabet ist ein Produkt von Migration und Kulturkontakt. Sicher ist, dass es im ägyptischen Kulturraum erfunden wurde, um semitische Wörter und Namen aufzuschreiben. Seine ersten Nutznießer waren entweder Söldner aus Asien, dem Kontinent, zu dem die Sinaihalbinsel ebenso gehört wie die Levante – also das heutige Israel, die Palästinensergebiete, Syrien und der Libanon –, oder Bergleute, die in den Steinbrüchen des Sinai für die Ägypter arbeiteten. Sie sprachen eine westsemitische Sprache. Vermutlich eine Vorform der kanaanäischen Sprachen.

      Die ersten ungefähr 30 Inschriften in einem protosemitischen Alphabet wurden im Winter 1904/1905 von den britischen Archäologen Hilda und Flinders Petrie im schon erwähnten Serabit el-Chadim entdeckt. Nachdem sie der britische Ägyptologe Alan Gardiner 1916 und sein deutscher Kollege Kurt Sethe 1917 teilweise entziffert hatten, ging man längere Zeit davon aus, dass das Alphabet in den besagten Türkisminen und dem Hathor-Tempel entstanden war. Der Tempel ist der einzige religiöse Großbau der Ägypter außerhalb des Nildeltas. Das spricht für die Bedeutung dieses Ortes, zu dem etwa tausend Jahre lang ägyptische Expeditionen aufbrachen, um Türkis zu holen. Die Göttin Hathor, der in der ägyptischen Religion eine besondere Beziehung zum Ausland nachgesagt wurde, konnte tatsächlich von Ägyptern und Semiten unter unterschiedlichen Namen gleichermaßen verehrt werden. Diese religiöse Praxis stabilisierte das Verhältnis zwischen den Ägyptern, die normalerweise auf andere Völker herabsahen, und den Semiten. Man ging respektvoll miteinander um und tauschte Kenntnisse aus. Dazu gehörte auch die Kunst des Schreibens – nur dass die Semiten eben aus den Zeichen, die sie sich von den Ägyptern abschauten, etwas völlig Neues machten.

      Die Funde in Serabit el-Chadim beweisen die Existenz einer Linearschrift, also einer mit Linien geschriebenen Schreibschrift, wie sie sich für Papier und Papyrus eignet. Diese Inschriften sind allerdings in Felsen oder steinerne Gegenstände geritzt – nur deshalb haben sie überhaupt überlebt. Sie sind kurz, teilweise schlecht erhalten und bis heute noch nicht vollständig entschlüsselt. Aber man kann die Hälfte der darin enthaltenen Schriftzeichen mittlerweile sicher und ein weiteres Viertel wahrscheinlich deuten.

      Die Inschriften kennen wie alle antiken Schriftzeugnisse keine systematischen Wortzwischenräume (das ist eine Erfindung des frühen europäischen Mittelalters), laufen mal nach rechts, mal nach links, mal horizontal. 22 Formen tauchen immer wieder auf, darunter ein Fisch, eine Schlange, ein Strichmännchen mit ausgestreckten Armen, eine Wellenlinie und ein Kuhkopf.

      Bereits Gardiner entzifferte mehrfach auftauchende Wendungen wie l b’lt (»für die Herrin«) und m’hb b’lt (»Geliebter der Herrin«), die auf eine weibliche Gottheit verweisen, die mit dem semitischen Wort baalat bezeichnet wurde. Da Serabit el-Chadim wie erwähnt ein Kultort der Göttin Hathor war, liegt es nahe, dass mit der »Herrin« sie gemeint war.

      Einige der Inschriften sind in Steinfiguren gekratzt, darunter eine kleine Sphinx aus Sandstein, die sich heute im Britischen Museum befindet. Auf ihr steht im protosinaitischen Alphabet Ba’alat und in Hieroglyphenschrift Hathor. Es handelt sich vermutlich, wie bei anderen beschrifteten Gegenständen aus Serabit el-Chadim, um Opfergaben für die Göttin. Durch eine kunsthistorische Einordnung der Sphinx hat man versucht, das Alter der Inschriften zu bestimmen. Eine solche Datierung wird immer umstritten sein – weil sie auf Deutungen kleinster Zeichenvariationen beruht. Aber mittlerweile werden die Figur und die Schriften von führenden Experten auf mindestens 1750 v. Chr. geschätzt. Der Ägyptologe Ludwig D. Morenz datiert sie sogar auf das 19. Jahrhundert v. Chr. Dafür sprächen ikonographische und stilistische Indizien der Inschriftträger. In diese Zeit passe auch das gelegentlich um 90 Grad gedrehte Zeichen Ajin – die Hieroglyphe, die aussieht wie ein Arm, bei dem Ober- und Unterarm einen rechten Winkel bilden und die Handfläche nach oben weist. Historische Indizien stützten die Einschätzung: Das 19. Jahrhundert v. Chr. war die Zeit, als die Ägypter die meisten Expeditionen in den Sinai aussandten. Der Hathor-Tempel wurde von ihnen damals baulich, künstlerisch und inschriftlich ausgestaltet.

      Egal, wie alt diese Buchstaben sind: Einig sind sich heute alle Fachleute, dass sie bereits die fortentwickelte Variante einer älteren Schrift darstellen. Morenz leitet das auch daraus ab, dass die protosinaitischen Zeichen bei unterschiedlichen Schreibern nicht immer exakt gleich aussehen – so wie heute verschiedene Handschriften oder gedruckte Schrifttypen recht unterschiedlich aussehen können und wir sie trotzdem erkennen. Bereits ägyptische Hieroglyphen ließen den Schreibern einigen Gestaltungsspielraum. Das setze, so Morenz, allerdings »eine gewisse Lehr- und Lerntradition« des Alphabets voraus.

      Diese früheste Form einer Buchstabenschrift war keine völlig neue Erfindung, ihr Prinzip wurde aus Ägypten übernommen. Schon die Ägypter nutzten Zeichen, die für ein bis drei Konsonanten standen. Sie dienten zur phonetischen Wiedergabe von Fremdwörtern. Diese sogenannte Gruppenschreibung kommt einem rein konsonantischen Alphabet sehr nahe. Die Semiten taten im Grunde nichts anderes, als dieses System auf ihre Sprache anzuwenden: Sie ordneten den Lauten bestimmte Schriftzeichen zu und schrieben dann nur noch mit diesen. Allerdings übernahmen sie dabei nicht die ägyptischen Konsonantenzeichen, sondern meist Wortzeichen – sowohl echte Hieroglyphen als auch hieratische Zeichen. Nur dass diese dann semitische Namen bekamen und für den ersten Buchstaben des Wortes standen – so wie heute in Grundschulklassen Bilder von Affe bis Ziege benutzt werden, mit deren Hilfe sich die Kinder die Buchstaben einprägen sollen. Solche Listen nennt man Abecedarien.

      Die ägyptische Hieroglyphe für »Rind« stand nun für den Konsonanten der im internationalen phonetischen Alphabet [ʔ] geschrieben wird und dessen ältester sicher überlieferter semitischer Name ’aleph wörtlich »Rind« lautet (vielleicht hieß er zum Zeitpunkt seiner Entstehung ’alpa). Es handelt sich um einen Knacklaut, den sogenannten Glottischlag. Deswegen sieht unser großes A, wenn man es auf den Kopf stellt, 4000 Jahre später immer noch aus wie der Kopf einer Kuh mit zwei Hörnern. Ludwig D. Morenz schreibt dazu: »Die Rinderhieroglyphe war in den hieroglyphischen Inschriften auch im Südwest-Sinai gut bekannt und auch dem leseunkundigen Blick ziemlich leicht verständlich.« Allerdings zeigte die Rinderhieroglyphe meist eine ganze Kuh mit vier Beinen und Körper. Ägyptische Schreiber konnten aber auch Pars pro Toto nur den Rinderkopf benutzen. Dass sich die Semiten für dieses Zeichen entschieden haben, rührt laut Morenz möglicherweise daher, dass der neue Buchstabe eine sakrale Doppeldeutigkeit haben sollte. Denn die uns nun schon häufiger begegnete Göttin Hathor wurde zwar in Menschengestalt dargestellt, aber mit einem Kuhgehörn gekrönt, in dem die Sonnenscheibe schwebte. Diese Verbindung des Zeichens mit der Gottheit war eine Spezialität der Semiten. Dagegen bestand für Ägypter keine Verbindung zwischen der Rinderhieroglyphe und Hathor.

      Der Konsonant b hieß in der