man aus ägyptischen, altarabischen und klassischen äthiopischen Texten kennt. Dieses Ha-la-ḥa-ma-Alphabet war ebenfalls semitischen Ursprungs und, wie man bisher wusste, mindestens seit dem 13. und 14. Jahrhundert v. Chr. im Vorderen Orient im Gebrauch. Es heißt auch Vogelalphabet, nach einem für den Schulbetrieb bestimmten Papyrus mit alphabetisch angeordneten Listen von Vögeln, Bäumen und Ortsnamen aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. In der Frühzeit des Alphabets konkurrierten beide Systeme noch miteinander. Tafeln aus der kanaanäischen Stadt Ugarit aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. zeigen sowohl Abgad- als auch Ha-la-ḥa-ma-Sequenzen.
Der Stadtstaat Ugarit, ein bedeutendes bronzezeitliches Zentrum im Norden des heutigen Syrien, galt aufgrund der erwähnten Tafeln lange als Geburtsstätte des Alphabets. Heute weiß man dank neuerer Ausgrabungen, dass es weiter im Süden erfunden wurde und die Neuerung sich dann an der Ostküste des Mittelmeers verbreitete. Die Funde weisen auf den Sinai und darüber hinaus ins innere Ägypten.
Womit wir wieder beim Ostrakon aus der Grabkammer Sennefers wären. Schneider deutet die Vorgehensweise desjenigen, der es beschriftet hat: »Nachdem er die ersten sieben Buchstaben oder mehr der Ha-la-ḥa-ma-Sequenz auf der einen Seite geschrieben hatte, drehte der Schreiber das Ostrakon, um dort mit dem Anfangsteil der kurzen Abgad-Sequenz weiterzumachen.« Somit bewiese der Fund dann nicht nur das Alter des Alphabets, sondern auch, dass beide semitischen Alphabetsequenzen in Ägypten bekannt waren.
Aber das hängt davon ab, ob man diese schwer entzifferbaren hieratischen Zeichen tatsächlich für den Versuch hält, den Anfang des semitischen Alphabets in einer nicht-semitischen Sprache mit ägyptisch-hieratischer Schrift wiederzugeben.
Eine Erfindung wie das Rad, das Schießpulver und der Buchdruck
Als ich Menschen aus meinem Bekanntenkreis erzählte, mein nächstes Buch handele von der Weltgeschichte des Alphabets und alle heutigen Alphabete seien auf ein Uralphabet zurückzuführen, das vor etwa 4000 Jahren von Semiten geschaffen wurde, bekam ich mehrfach zu hören: »Ach, wirklich? Auch das chinesische?« Dann musste ich erklären, dass die chinesischen Schriftzeichen kein Alphabet sind. Ein Alphabet ist ein Schreibsystem, in dem idealtypisch jedes Zeichen für einen Laut der entsprechenden Sprache steht. Aus diesen Zeichen lassen sich sämtliche Wörter einer Sprache zusammensetzen. Je nachdem, wie viele Laute sie hat, kommt man mit relativ wenigen Zeichen aus.
Chinesisch ist dagegen eine sogenannte morphosyllabische Schrift. Jedes Zeichen steht für eine Silbe, aber es ist nicht so wie in echten Silbenschriften, dass jede Silbe nur durch ein bestimmtes Zeichen dargestellt wird. Stattdessen existieren für die jeweiligen Silben verschiedene Zeichen, deren älteste sich aus Bildzeichen entwickelt haben, die auf 3000 Jahre alten Orakelknochen zu finden sind. Heute gibt es 100000 Schriftzeichen, für den täglichen Gebrauch genügen 3000 bis 5000 Zeichen.
Man kann in der Entwicklung der Schrift drei Hauptsysteme unterscheiden: Die ältesten Schriften entstanden vor 5500 Jahren in Ägypten und Mesopotamien als Bilderschriften, in denen zunächst ein noch sehr wenig abstraktes Zeichen für ein Wort stand. Als die Abstraktion voranschritt, entstanden bald Mischformen: Die ägyptischen Hieroglyphen sind eine Kombination aus Piktogrammen, Ideogrammen und Lautzeichen. Ein Piktogramm ist ein Zeichen einer Schrift, das ein erkennbares Bild eines belebten oder unbelebten Gegenstandes darstellt. Ideogramme sind Zeichen, bei denen der Zusammenhang zwischen Dargestelltem und Gemeintem abstrakter und allgemeiner ist, etwa der Briefumschlag in der Menüleiste jedes Computers für Mail oder das Diskettenzeichen für »Speichern«. Dazu kamen in Ägypten Deutungszeichen, die regeln, welcher Bedeutungsklasse ein Wort angehört. Logogramme – als Pikto- oder Ideogramme – können auch als Lautzeichen fungieren. Ein einsilbiges Wort steht dann für die Lautfolge (im Ägyptischen ein bis drei Konsonanten), aus der es besteht. Der Ägyptologe und Hieroglyphenlehrer Michael Höveler-Müller erklärt das so: Es ist, als schriebe man das deutsche Wort sauber mit zwei Zeichen für eine Sau und einen Bär. Die klassische Hieroglyphenschrift umfasste 700 Zeichen (in griechisch-römischer Zeit schwoll sie sogar auf 7000 an), die ähnlich funktionierende Schrift der Maya in Südamerika hatte etwa 800.
Die mesopotamische Keilschrift reduzierte im Lauf ihrer Entwicklung von der Bilderschrift, in der ein Stern für einen Stern stand, über die Ideogrammschrift, in der der Stern »Himmel« bedeutete, zu reinen, überhaupt nicht mehr bildhaften Keilkombinationen ihren Zeichenbestand von 1500 auf etwa 600. Durch Verbindungen zweier Wortzeichen, konnte ein anderes Wort dargestellt werden – etwa das Wort »Strafe«, das in der sumerischen Keilschrift durch »Stock« und »Fleisch« kombiniert wird.
Mit deutlich weniger Zeichen kommen reine Silbenschriften aus, in denen ein Zeichen für eine Silbe steht. Zu diesen gehören sowohl die frühesten europäischen Schriftsysteme in der mykenischen Kultur des alten Griechenland als auch die beiden japanischen Schriften Hiragana und Katakana oder neuere Schriften, die im 19. Jahrhundert für amerikanische indigene Sprachen wie Cree oder Cherokee entwickelt wurden. Sie umfassen meist etwa 50 bis 100 Silbenzeichen.
Der Japanologe und Schrifthistoriker Florian Coulmas beschreibt den Gang der Entwicklung des Schreibens so: »Der entscheidende Schritt [...] ist Phonetisierung; d.h. der Übergang vom Bildzeichen zum phonetischen Symbol. Die ultimative Konsequenz der Phonetisierung ist das Alphabet, das oft als bestes und hochentwickeltstes Schreibsystem gepriesen wird.«
Durch eine Alphabetschrift reduziert sich die Zahl der Zeichen, die nötig ist, noch einmal deutlich, denn Sprachen haben weniger Laute als Silben. Das lateinische Alphabet hat 26 Buchstaben, das griechische 24, das kyrillische in der am meisten gebrauchten russischen Variante 33. Arabisch schreibt man mit 28 Buchstaben, georgisch mit 33 und armenisch mit 39. Die frühesten semitischen Alphabetschriften vor 3500 bis 4000 Jahren bestanden aus etwas über 20 Zeichen – damals allerdings noch ohne Vokale.
In Wirklichkeit ist es oft komplizierter. Zum Schreiben der deutschen Sprache nutzen wir beispielsweise Zeichen, die im lateinischen Alphabet gar nicht vorkommen – wie ö, ü, ä oder ß. Andere Laute, für die die Römer, von denen wir unsere Schrift geerbt haben, keine Zeichen benötigten, schreiben wir mit zusammengesetzten Buchstabenverbindungen: sch. Den Trick haben wir von den Römern gelernt, die selbst schon den griechischen Buchstaben χ in aus dem Griechischen entlehnten Fremdwörtern als ch schrieben. Das zweite Beispiel zeigt bereits, was für eine sprachökonomisch geniale Erfindung das Alphabet ist. Jede Sprache der Welt ist durch Alphabetschrift darstellbar. Jedes Schulkind kann innerhalb weniger Monate die wenigen Zeichen echter Alphabete lernen.
Kein Wunder, dass sich diese Erfindung, nachdem sie erst mal den Kreis der abgelegenen Wüstenregionen im ägyptisch-semitischen Grenzgebiet verlassen hatte, überallhin ausgebreitet hat. Der Bonner Ägyptologe Ludwig D. Morenz, der mit einem Team seit ein paar Jahren die Gegend um die Türkismine von Serabit el-Chadim in der sinaitischen Wüste und die 30 dort gefundenen uralten alphabetischen Inschriften erforscht, schreibt: »Was kulturell als eine Winkelangelegenheit begann, hat mit längeren Verzögerungen in seiner genialen Einfachheit inzwischen buchstäblich die ganze Welt erreicht.« Heute werden mit Ausnahme des Chinesischen und Japanischen und weniger kleiner indigener Sprachen, für die Silbenschriften existieren, alle Sprachen der Welt mit Alphabetschriften geschrieben. Und natürlich nutzen Chinesen und Japaner das Alphabet. Wenn sie Computerprogramme schreiben, arbeiten sie mit englischen Kurzbefehlen, die mit lateinischen Buchstaben eingegeben werden.
Zur Verbreitung der Alphabete haben zwar auch militärische Eroberungen durch Perser, Griechen, Römer, Araber und der europäische Kolonialismus beigetragen (inklusive der russischen Erschließung Sibiriens) – aber eben vor allem die unvergleichliche Anpassungsfähigkeit des alphabetischen Systems selbst. Es ist kein Zufall, dass beispielsweise die Vietnamesen gerade in dem Moment, als sie den Kolonialismus abgeschüttelt hatten, ihre auf den chinesischen beruhenden Schriftzeichen abschafften und endgültig zur Lateinschrift übergingen – es war für die Alphabetisierung in einem modernen Land einfach viel praktischer.
Die Erfindung des Alphabets war für die Menschheit ein Schritt wie die Erfindung des Feuermachens, des Rads, des Schießpulvers, der Hochseeschifffahrt oder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Mit Letzterem kann man es am besten vergleichen: So wie Buchdruck mit geschnitzten oder geprägten Druckstöcken ja schon vor Gutenbergs Setzkasten existierte, konnten Menschen