A. F. Morland

5 lange und 7 kurze Krimis


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      Ralf hatte die ganze Zeit das Bein eines Mannes angestarrt, der vor ihm herlief, dann bei einer Sandburg stehenblieb, zum Schenkel griff, das Bein abschnallte und in den Sand steckte.

      „Das kommt vom Krieg“, hatte ihm sein Vater später gesagt.

      Dieser Mann geht genauso. Er hat ein Holzbein.

      Aber schon einen Moment später sieht Ralf ihn nicht mehr. Er ist einfach verschwunden, so als hätte es ihn nie gegeben – und Andreas liegt da, wie eine starre Puppe, so als hätte er nie gelebt.

      Anno 2009...

      Vierzig Jahre später.

      Der Fernseher läuft. Die alten Bilder werden noch einmal gezeigt. Immer wieder aufs neue. Die Landung von Apollo 11 – in einigen Programme sogar die Originalübertragung in voller Länge.

      Ralf sieht den Adler landen.

      Und sitzt wie erstarrt da. Denkt plötzlich an das Blut, das Messer, den toten Andreas und den Mann in der Dunkelheit.

      „Wolltest du nicht auch immer Astronaut werden?“, fragt die demente Achtzigjährige im Rollstuhl, die ab und zu nochmal einen hellen Moment hat, ansonsten mit Ralfs Mutter aber nur den Name gemein zu haben scheint.

      Ralf antwortet nicht.

      „Komisch, du hast dich so sehr dafür interessiert, dass weiß ich noch genau. Aber das hatte sich dann plötzlich erledigt...“

      „Ja“, murmelt er. „Das hatte es.“

      „Schade, dass du so weit weg wohnst.“

      Nein, denkt er. Das ist gut so.

      „Ich hoffe, man sorgt hier in diesem Altenheim gut für dich“, sagt er.

      Sie beugt sich vor. „Ich habe da einen Herrn kennengelernt. Der ist nett.“

      „Ah, ja...“

      „Hat aber genauso wenig Haare wie dein Vater früher.“

      52 war Ralfs Vater nur geworden. Verkehrsunfall, Kreuzung Lengericher Straße/ Saerbecker Straße. So etwas nannte man wohl Schicksal.

      Eine Dorfkneipe.

      Ralf ist wegen eines Klassentreffens nach Ladbergen gekommen. Und jetzt sitzen sie beim Bier – alle die, die damals das Lesen lernten, als Neil Armstrong zum Mond flog.

      „Aber der Ralf, der konnte dat schon!“, sagt einer. „Obwohl er der Jüngste war.“

      „Hatte ich mir selbst beigebracht“, sagt er.

      „Du wolltest doch damals immer schon was besonderes werden. Astronaut, glaube ich, oder? So wie unser größter Ladberger, hier, wie heißt er noch – Nils Armstrong.“

      Neil – nicht Nils!, will Ralf ihn korrigieren, aber er behält die Worte für sich. Was soll‘s?

      „Naja, aber Professor für Chemie ist ja auch nix Schlechtes oder? Nicht gerade sowas wie eine Reise zu den Sternen, aber ich schätze mal das liegt ja auch daran, dass die mit den Astronautenprogrammen damals erstmal eine Pause eingelegt hatten, wenn ich das richtig sehe...“

      „Ist damals nicht der Andreas umgekommen?“, fragt eine Frau. Jetzt ist sie dünn und hager wie ein Hering. Damals, hat Ralf noch gut in Erinnerung, konnte sie kaum aus den Augen sehen, wenn sie lachte, so dick waren ihre Wangen. Wie die meisten, die am Tisch sitzen, ist sie nie aus Ladbergen herausgekommen. Anders als Ralf.

      Ilona heißt sie. Die dicke Ilona, denn es gab auch noch eine andere, die dünn war. Zu Ralfs Verwirrung ist allerdings in den letzten vierzig Jahren die dünne Ilona dick geworden und die dicke dünn.

      „Ja, richtig der Andreas...“, sagt jemand anderes. „Ralfi, dass war doch dein bester Freund, oder?“

      „Ja“, murmelt Ralf. Er hört den Stimmen der anderen zu, ihrem Wortschwall aus Erinnerungen und Halbwahrheiten. Das gesammelte Dorfgerede eben, abgeschliffen und in seinem wahren Kern etwas verfälscht durch die Zeit.

      „Ich meine die Polizei, die hat ja damals nicht so richtig herausfinden können, wer das nun eigentlich gewesen ist.“

      „Ja, aber es gab in den nächsten Jahren noch drei weitere Kinder, die hier in der Gegend umgebracht wurden.“

      „Ich meine, so'n Wort wie Kinderschänder, da hat man ja damals nur hinter vorgehaltener Hand von gesprochen.“

      „Ich weiß noch, dass wir einige Zeit kaum raus durften und unsere Eltern uns überall hingebracht hatten.“

      „Ja, das hat sich dann bald auch gelegt. Ich meine du kannst Kinder doch nicht rund um die Uhr überwachen!“

      „Hat sich das nicht in der Nacht des Schützenfestes abgespielt?“

      „Die Nacht des Schützenfestes! Das war doch die Nacht der Mondlandung“, sagt jemand. „Allerdings muss ich zugeben, dass mir das auch jetzt erst aufgefallen ist, weil alle Leute über das Jubiläum von Nils Armstrong sprechen.“

      Wieder Nils!, denkt Ralf, weil ihn das etwas ablenkt. Eigentlich will er nichts mehr davon hören. Seit er Andreas gefunden hatte, war sein Interesse an Raumschiffen wie weggeblasen. Und wenn jemand das Wort Apollo aussprach oder Armstrong oder EAGLE oder Orbiter, dann konnte es sein, dass er Schweißperlen auf die Stirn bekam. Immer noch. Wahrscheinlich würde das auch nicht mehr aufhören. Nur ganz dunkel erinnert sich Ralf daran, wie er später vom Dorfpolizisten befragt wurde und noch später von einem Kriminalhauptkommissar und danach von einem Mann, von dem er bis heute nicht wusste, wer er war, aber der immer sehr verständnisvoll nickte, wenn er einen Satz beendete.

      Die Zeit nach dieser Nacht erschien Ralf im Rückblick wie ein verworrener Alptraum. Und manchmal hatte er das Gefühl, bis heute nicht wirklich daraus aufgewacht zu sein.

      „Echt, dat muss ein Auswärtiger damals gewesen sein“, hört er jemanden sagen.

      „Ja, und warum sind dann noch weitere Kinder umgekommen?“, fragt jemand anderes und stört damit den lokalpatriotischen Grundkonsens am Tisch.

      „Ja, aber kannst du dir denn vorstellen, das jemand, der mit unseren Eltern zusammen im Festzelt gesessen und Bier gesoffen hat, sowas tun würde? Jemand, hier aus der Gegend?“

      „Vielleicht sogar jemand, der mit Neil Armstrong verwandt ist“, sagt Ilona. Diesmal die dünne, die jetzt dick ist. Einen Augenblick herrscht Schweigen, diese Bemerkung findet jeder unpassend. „Ich mein‘ ja nur“, sagt sie.

      Ihre Namensvetterin erlöst die Runde aus ihrer bedrückenden Stille.

      „Fährst du morgen nochmal deine Mutter besuchen, Ralf?“

      „Ja.“

      „Meine ist auch im Haus Widum Lengerich. Wir sind zufrieden. Also – sie und ich.“

      „Verstehe.“

      „Wann fährst du?“

      „Weiß noch nicht.“

      „Kannst du mich mitnehmen? Unser Wagen ist nämlich kaputt, aber wenn ich ihr zu erklären versuche, dass ich deswegen nicht zu ihr kommen kann, versteht sie das nicht.“

      „In Ordnung“, sagt Ralf.

      Ralf sitzt mit seiner Mutter im Tagesraum des Seniorenheims Haus Widum in Lengerich – zehn Kilometer von Ladbergen entfernt. Aber für Mutter ist das Ausland. Schon das Platt, das man hier spricht unterscheidet sich hörbar vom Ladberger Platt. Wie soll man sich da wohlfühlen? Darum hat sie sich lange gesträubt, hier her zu ziehen. Aber schließlich war es unumgänglich gewesen.

      „Ich hatte ja immer gehofft, dass du mal unseren Hof übernimmst“, sagt sie. „Aber das ist ja alles anders gekommen. Weißt du, was der Onkel Friedhelm gesagt hat: Selbst schuld, wenn du das Kind erst ein Jahr früher zur Schule lässt und dann auch noch aufs Gymnasium schickst. Selbst Schuld!“

      Ralf hat seit ein paar Jahren einen Lehrstuhl für Chemie in Zürich.