Stefan Zweig

Seine schönsten Erzählungen und Biografien


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zunächst weder sonderlich imposant noch eigenartig. Es ist ein solider breiter Bau mit schweren runden Türmen, das Kloster in seiner viereckigen Form eher einer Festung ähnlich, und tatsächlich hat es in Kriegszeiten als solche gedient. Ohne große Erwartung tritt man durch die schweren, kunstvoll geschnitzten Holztüren. Aber kaum man den Innenraum betritt, ist man geblendet. Eben stand man noch im scharfen südlichen Sonnenlicht von Rio, jetzt ist es nur ein honigfarbener Schimmer, der einen umhüllt, ein sonderbar weiches, gedämpftes Licht wie das eines nebligen Sonnenuntergangs. Man unterscheidet keine Formen, keine Konturen, Raum und Form zerfließen in diesem leuchtenden Nebel. Dann nimmt man erst wahr, daß dieser Schimmer von Gold ausgeht, das all die Wände einheitlich umleuchtet. Aber es ist nicht der laute, dröhnende, gellende Farbton von vergoldetem Metall, sondern ein ganz dünner, ein – möchte man sagen – leiser Glanz, der wie eine Lasur die Pfeiler und das Getäfel umspielt. Jede Linie, jede Fläche fließt dadurch zart und weich ineinander über und ergibt, gemengt mit dem Tageslicht, das von den Dachfenstern einströmt, diesen schwebenden Glanz, der wie ein feiner Rauch das weite und geräumige Kirchenschiff durchzieht.

      Allmählich gewöhnt sich das Auge und vermag Einzelheiten zu erfassen. Und nun erkennt man, was in unseren Kirchen aus Stein und Metall und Marmor geformt ist, die geschnitzten Balustraden, die Täfelung, die Verzierungen, ist hier aus dem heimischen Holz, nur daß dies Holz mit einer ganz dünnen Schicht von Gold – man weiß nicht zu sagen: übermalt oder überzogen ist, einer so dünnen und so kunstvoll aufgetragenen Schicht, daß sie zart und unauffällig jede Schwingung und Biegung wiedergibt und das Krause des Barocks auf wunderbare Weise entlastet. Ohne an Originalität oder an Pracht den großen Kathedralen Europas vergleichbar zu sein, ist mit São Bento seinen Künstlern doch etwas Einmaliges gelungen: eine glückliche und neuartige Bewältigung der Materie, eine vollkommene Harmonie in dieser goldenen Dämmerung, die man nicht mehr vergißt. Und dieses wohltuend Maßvolle waltet dann auch im Kloster vor, in seinen weiten, steingepflasterten Gängen, den schweren schwarzen Holztüren, der schön proportionierten Bibliothek, dem abgeschiedenen Klosterhof, und man geht durch diese kühlen, von dicken Wänden gegen Lärm und Laut geschützten Gänge wie durch eine andere Zeit. Man hat vergessen, daß man in einer südlichen Welt ist jenseits des Äquators und unter anderen Sternen. Man könnte glauben in einem schweizer oder deutschen Benediktinerkloster, diesen uralten Refugien der Bücherfreunde, vor sich hin zu träumen. Da plötzlich an einem Fenster erinnert einen der Blick auf herrlichste Weise, wo man sich befindet: mit seinen Wolkenkratzern und Palais, mit seinen überfüllten Straßen dehnt sich in weitem Umkreis das Häusergewirr einer modernen Metropole unter der grünen Wacht seiner Berge. In der Tiefe dehnt sich die Bucht mit ihren Schiffen und Inseln und funkelt das tropische Meer; wie überall erlebt man in Rio an allen Stellen und auch den abgesondertsten und einsamsten diese unvergleichliche Zwiefalt von Stadt und Landschaft, von Zeitlichem und Zeitlosigkeit.

      Dieses eine Kloster und noch das zweite auf dem andern Hügel von Santo Antônio hat sich Rio gerettet von seiner Vergangenheit. Es ist sein Adelsbrief, bezeugend das Alter und die Vornehmheit seiner Kultur. Mag alles Kleinliche und Ärmliche der Kolonialzeit auch weiter verfallen und verschwinden, mag die Stadt in ihrer Ungeduld sich von Jahr zu Jahr verändern, dieser goldene Schimmer durchleuchtet die Zeit.

      9. Spazieren durch die Stadt

      Jeder Weg beginnt hier an der Avenida Rio Branco. Sie ist – oder vielmehr, sie war – der Stolz der Stadt. Vor etwa vierzig Jahren kam der Ehrgeiz über Rio, es den europäischen Großstädten gleichzutun und einen Boulevard, eine repräsentative Hauptstraße im Herzen der Stadt zu haben. Und da sie wie alle Städte des Südens davon träumte, ein Paris zu werden, verlockte das Vorbild des Boulevard Haussmann, den der große Präfekt mit kühnem, breitem Strich geometrisch gerade durch das frühere Gewirr verschachtelter alter Gassen gezogen, zur Nachahmung. Der Plan dieser Prunkavenida aber glaubte schon verwegen zu sein, wenn er sich das Maß von den europäischen Boulevards borgte und die Straßenbreite mit dreiunddreißig Metern ansetzte. Die Brasilianer der älteren Generation, die bodenständigen cariocas, an ihre engen schattigen kolonialen Durchlässe gewöhnt, schüttelten zwar die Köpfe und erklärten diese übermäßige Breite als allzu verwegen. Aber der Plan setzte sich durch. Man stellte an den Eingang der Avenida ein prächtiges und sehr pariserisches Opernhaus, die Nationalbibliothek, das Museum, das damalige Luxushotel, um von vornherein die neue Straße als den geistigen und kulturellen Mittelpunkt zu kennzeichnen, man wagte sogar sechsstöckige Häuser, die hochmütig über die niederen Dächer der bisherigen Palácios und Palacetes herabblickten. Die breiten Trottoirs wurden mit schwarzweißem Mosaik auf das schönste geschmückt, die Fahrbahn asphaltiert, die Geschäftshäuser und Klubs beeilten sich, die breite schöne Front in der damals modernsten Architektur zu flankieren. Es wurde in der Tat eine prächtige Straße, und mit Stolz konnten die Brasilianer sich sagen, daß sie den berühmten Boulevards Europas würdig an die Seite zu stellen sei.

      Aber es erweist sich in Amerika, diesem mit ganz anderer Vehemenz aufstrebenden Kontinent, immer als Fehler und verhängnisvolle Bescheidenheit, in europäischen Maßen zu denken und zu rechnen. Zeit und Raum haben jenseits des Ozeans ein anderes dynamisches Maß. Hier entwickeln sich alle Dinge geschwinder, um freilich auch rascher zu veralten. Und so ist durch das tropische Wachstum Rios und den phantastisch sich entwickelnden Verkehr schon heute die Avenida Rio Branco längst zu eng, zu schmal geworden, ständig verstopft durch die Prozession der Autos, die nur im Schritt sich vorwärts bewegen können, donnernd von Lärm, überfüllt von Menschen und überdies noch rechts und links zurückgepreßt in ihrem Strombett durch die vorgeschobenen Planken der ständigen Umbauten. Denn schon scheinen die Prachtbauten von 1910 hier nicht mehr prächtig und verwegen genug, das Luxushotel von einst ist bereits zum Abbruch verurteilt, und an seiner Stelle soll ein zweiunddreißig Stock hoher Bau errichtet werden, die sechsstöckigen Häuser setzen entweder neue Stockwerke auf oder werden völlig umgestaltet; was vor dreißig Jahren mächtig und sogar monströs erschienen, wirkt heute klein und im Stil antiquiert und altmodisch. Die Oper, ganz in den Schatten gedrängt, kann ihre Proportionen nicht mehr entfalten, das Kunstmuseum und die Bibliothek haben ihre Superiorität verloren, und wie bei den Pariser Innenboulevards, der Berliner Friedrichstraße, der Londoner Regent Street beginnen die Luxusgeschäfte vor dieser wilden Betriebsamkeit sich in stillere Nebengassen zurückzuziehen. Die Prunkstraße ist heute nicht viel mehr als die obligate Verkehrsstraße und Durchgangsstraße ohne besonderes Cachet und ohne künstlerische Persönlichkeit; gerade was ihr als Charakter zugedacht war, die Vornehmheit, ist verloren, weil sie heute einzig der Zeit zu dienen sucht und ihr doch nicht mehr genügt.

      Um ihren immer mächtigeren Rhythmus voll entfalten zu können, brauchte die Stadt darum neue und breitere Boulevards außer diesem einen, und sie schafft sie sich in ihrer ständigen Atemnot mit entschlossener Kraft. Rechts und links – die Pläne sind wirklich grandios in ihrer Verwegenheit – stößt sich Rio von innen heraus immer neue Avenuen frei, ganze Häuserblöcke wegfegend, wie eine vorwärtsrasende Lokomotive ein papiernes Blatt. Hügel werden abgetragen, ganze Karrees von Häusern der Spitzhacke ausgeliefert, Felsen mit Tunnels durchbohrt, die Berge empor in zementenen Serpentinen breite Verbindungen gebahnt. Rechtzeitig hat hier eine vorausdenkende Verwaltung erkannt, daß es nichts nützt, mit Raum zu sparen, indem man die Häuser höher türmt, wenn gleichzeitig die Stadt sich wie ein überkochender Topf weit und weiter hinaus ins Land ergießt. Die alten Hauptstraßen, die Rua Carioca und Catete und Laranjeiras, die nach Tijuca und Isidoro und Meyer halten den Verkehr mehr auf als sie ihm dienen, und von dem neuen Wohnviertel in das Herz der Stadt fährt man mit dem Auto eine halbe Stunde und noch mehr. Es mußte also Raum gewonnen werden um jeden Preis, und am nachgiebigsten, am gefälligsten erwies sich noch das Meer. Einer Bucht, die sich auf Meilen dehnt, zweihundert und sogar fünfhundert Meter durch Aufschüttung fortzunehmen, hieß dem unendlichen Meer nicht viel nehmen und doch der Stadt unendlich viel gewinnen. So entstanden die großen Strandboulevards, die heute den Blick umranden und durch den Blick auf das Meer und die Landschaft, geschmückt mit Bäumen, durchzogen von Gärten, mit ihren immer abwechslungsvollen Formen dem modernen Rio als Entgelt für seine alte Romantik eine neue Schönheit geben. Sie wirken wie der weiße Rand eines Buches um den gedruckten Text. Jede Seite dieses wie von Gottes Hand aufgeschlagenen Buches sagt eine andere Schönheit aus, und man wird nicht müde, sie immer und immer wieder aufzublättern. Dank der bizarren Formung, in der sich in fünffachen