Stefan Zweig

Seine schönsten Erzählungen und Biografien


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eine Avenida blickt – freilich über einen ganzen Ozean – nach Europa hinüber. Sie ist so neu-europäisch, wie die Avenida Rio Branco vor dreißig Jahren europäisch war, und es ist typisch, daß die Fremden und die Reisenden lieber an der Avenida Atlântica leben als die richtigen cariocas, die sich hier eher zu Gast als zu Hause fühlen.

      Und wieder eine Kehre – hier muß der Fußgänger innehalten, es ist zu weit für einen Tag – und man meint auf Zauberflügeln plötzlich in die Schweiz getragen zu sein; da liegt, ein paar Dutzend Meter entfernt vom Strande, ein See, die Lagoa Rodrigo de Freitas, rings von Bergen umschlossen. An seinem flachen Rande hat sich mit unheimlicher Geschwindigkeit eine ganz neue Villenstadt angeschmiegt, aber über ihm halten die Berge Wacht, und des Nachts spiegeln sich ihre dunklen Konturen magisch in seinem schwarzen Metall. Aber nicht rasten! Nur einen Blick auf diesen Bergsee inmitten einer Metropole, auf den romantische Negerhütten unbekümmert niederblicken; noch ein anderer langer Strand, der von Ipanema und noch ein zweiter, der von Leblon, ist zu umfahren, wo noch die Häuser und die Palmen des Boulevards jung sind. Dann erst nähert die Avenue sich der offenen Natur, und es beginnt die Avenida Niemeyer, wie die Corniche der Riviera in und durch den Fels gesprengt, hart an dem immer felsiger, immer abrupter werdenden Strand sieht sie hinab auf das Meer, das hier unruhiger und gefährlicher sich gebärdet. Aber zur Rechten beruhigen schützend die Hügel, mit grünem Gestrüpp, mit Palmen und Bananen niedersteigend – es ist eine Fahrt voller Abwechslungen, ehe man bei Joá einen Hügel erreicht, der Rast und Überblick gewährt. Aufgetan die Bucht mit ihren Inseln und Felsen, aufgerollt das Panorama der fernen Berge, verschwunden hinter dieser farbigen Kulisse die Stadt – man ist im Freien, man ist am Ende! Aber wie lange noch? Ein Jahr? Ein Jahrzehnt? Denn schon werden am nächsten Strande, der Praia da Tijuca, die Grundstücke ausgemessen; wo Sand weiß und weich einem jetzt den Schuh füllt, wird bald eine neue Häuserfront sich gegen das Meer stellen – wer kann sagen, wo Rio enden wird, wo es wirklich innehält.

      Und wieder eine Kehre und wieder eine andere Welt. Der Wagen klettert in steilen Kehren den Berg hinauf, für eine Viertelstunde ist man im Urwald; kaum ein Haus, bestenfalls ein paar Hütten, halb von Palmen verdeckt, in denen die Neger hausen. Schon beginnt man zu vergessen, daß man doch nur einen einstündigen Ausflug innerhalb der Stadtgrenze unternommen, und man hat das Gefühl, in dieser Zeit sich um Meilen und Meilen entfernt zu haben. Aber plötzlich an einer Kehre blickt man hinab, und da liegt sie wieder, die Stadt! Ganz anders liegt sie da, weil von einer anderen Seite gesehen, man erkennt sie und erkennt sie doch nicht. Und welchen Weg immer man nun nimmt, höher noch aufsteigend zu der Vista Chinesa, der Mesa do Imperador oder rückkehrend durch Tijuca, diesen alten aristokratischen Villenort, überall verschieben sich die Perspektiven; ein fotografischer Apparat verbrauchte zehn Dutzend Filmstreifen, um nur die überraschendsten dieser Aspekte festzuhalten. Und dann ist man wieder in der Stadt, man weiß nicht aus welcher Richtung und in welche Richtung – nach Monaten findet man sich noch nicht zurecht – und wieder auf neuen Boulevards, etwa dem palmenbestandenen der Mangue oder vorbei am Jardim Botânico oder auf der parkhaften Praça da República. In ein oder zwei Stunden hat man nicht nur eine Stadt sondern eine Welt umschwungen und steht, noch sanft taumelig, inmitten des farbigen Tumults der Menschen und Geschäfte: die eine dieser südländischen Straßen erinnert an die Cannebière von Marseille, die andere, steil die Hügel hinan, an Neapel, die tausend Kaffeehäuser mit heiter schwatzenden Männern an Barcelona oder Rom, die Lichtspielhäuser mit ihren Reklamen und die Hochhäuser an New York. Man ist zugleich überall und weiß doch an jenem einzigartigen Zusammenklang: man ist in Rio.

      10. Die kleinen Straßen

      Diese großen Boulevards sind das Neue, das Grandiose an Rio; weniges der Welt kann ihnen an Großartigkeit der Anlage und an landschaftlicher Schönheit verglichen werden. Aber sie sind Fahrstraßen, Paradestraßen, moderne, internationale Straßen, und ich liebe noch mehr als ihre blendende Pracht die kleinen Straßen, die namenlosen, die ungeachteten, die einen wandern lassen, ohne daß man weiß wohin, die einen ununterbrochen mit kleinem, natürlichem, südlichem Charme entzücken und um so romantischer wirken, je ärmer, je urtümlicher, je anspruchsloser sie sind. Auch die ärmsten – und gerade diese – sind voll von Farbe und Leben und wechselndem Bild. Man kann sich nicht satt sehen an ihnen. Nichts in ihnen ist hergerichtet, appretiert für den Fremden, nichts fotografierbar, und ihr Zauber ist nicht die Architektur, die Struktur, sondern gerade das Gegenteil, das lebendige Durcheinander, das Zufällige, das jede einzelne Gasse attraktiv macht und jede in einem anderen Sinne. Spazierengehen, eine alte Lust von mir, ist für mich in Rio geradezu zum Laster geworden; wie oft bin ich für eine Viertelstunde in Rio ausgegangen und, von einer Gasse zur andern verführt, nach vier Stunden zurückgekommen, ohne mich des Wegs zu erinnern oder eines einzigen Namens in dieser Stadt der ewigen Entdeckungen und Entzückungen. Und doch, nie hatte ich das Gefühl, ich hätte Zeit verloren oder vertan.

      In den kleinen, engen Straßen von Rio herumzustreichen heißt zurückwandern in der Zeit. Man ist in einer kolonialen Welt, wo alles noch nahe, noch handlich, noch offen war, wo noch nicht die Autos sausten und die Verkehrslichter blitzten, wo man noch gemächlich ging, nicht viel mehr suchend als den Schatten, der das Schlendern angenehmer machte. Selbst die vornehmsten Gassen waren schmal; man sieht es noch heute an der Rua do Ouvidor, der alten Straße der noblen Geschäfte. Kein Wagen darf sie durchfahren – wie die Florida in Buenos Aires – und er käme auch gar nicht vorwärts, denn tagsüber drängt dort ein bunter Schwarm; jeder richtige Carioca kommt ein paarmal des Tags durch, es ist die große Promenade, der Treffpunkt, Kopf an Kopf, so dicht und belebt, daß man kaum einen Zoll des Pflasters sieht, wandert, plaudert, eilt hier ein unaufhörliches Getriebe, das durch die Abwesenheit des sonst infernalischen Autolärms diesen Korso zu einem unerschöpflichen Vergnügen macht. Aber dann links oder rechts weiter durch Gassen und Gäßchen; es hat keinen Sinn, nach dem Namen zu fragen, man kann sich ihn ja doch nicht merken. Lang und schmal kreuzen und überschneiden sie sich ständig, und zwischendurch führt dann eine breite mit rasselnden Trambahnen – jede überfüllt – oder hupenden Automobilen; keine ist architektonisch hervorragend, meist sind es nur einstöckige Häuser ohne Schmuck, in denen unten der Laden offensteht. Aber dieses Offenstehen der Läden, die nicht durch Tür oder Glas den Blick auf das Innere verwehren, macht jedes dieser Geschäfte zu einem Genrebild. Da sitzt in einem Winkel mit drei Gesellen der Schuster und nagelt die Schuhe, da ist ein Gemüseladen, ein Kranz von Bananen wölbt sich als Stillleben um die ganze Tür, Zwiebeln schaukeln sich in langen Kränzen, Melonen zeigen farbig ihre aufgeschnittenen Flächen, Tomaten häufen sich zu roten Bergen. Nebenan eine Apotheke, eine Drogerie, hundert Flaschen blitzen, ein Weinkeller tut sich auf, ein schwarzer Raseur schäumt seine Kunden ein, ein Korbflechter flickt Sessel. Dort arbeitet der Schreiner, hier schlachtet der Metzger, im Hofe waschen und wringen die Frauen, hier lockt, mit tausend Losen beklebt, ein Laden zur Lotterie, der Notar schreibt in seinem offenen Kontor halb auf der Straße – alles kann man hier in Arbeit sehen, und wo man ein Volk bei der Arbeit sieht, blickt man in sein wirkliches Leben hinein. Man sieht, wie die Menschen wohnen, das schlichte Eisenbett hinter der Werkstatt, nur durch einen Vorhang getrennt, man sieht, wie sie essen, wie sie jede Stunde verbringen. Nichts ist verborgen, verdeckt und nichts maschinisiert, standardisiert. Und wieviel gibt es hier zu sehen, wie vielerlei, denn in Brasilien wirkt noch das alte Handwerk, das in Europa und Amerika allmählich ausstirbt, unerschütterlich weiter. Auf einem Spaziergang kann man alle Metiers durch Zuschauen lernen – alles ist hier so herrlich geheimnislos und alles zugleich wunderbar farbig; da der Neger, dort der Weiße, dort der Mestize und alle in ihren hellen Leinenkleidern und die Frauen in bunten Farben und all dies noch zehnfach funkelnd in diesem einzigen strahlenden Sonnenglast. Und dann die Cafés – wie viele Cafés? Wer kann sie zählen, an jeder Ecke ist eines, und es ist ein ewiges Aus und Ein bis spät in die Nacht. Dann funkeln und leuchten, gegen die große Dunkelheit der Häuser gestellt, diese schattigen Gelasse wie schimmernde Höhlen, belebt bis tief in die Nacht; denn in dieser vitalsten Stadt geht das Leben immer weiter, die Straßenbahnen fahren ununterbrochen, und um fünf Uhr morgens sieht man schon die ersten Badenden am Strand. Wieviel Leben in diesen tausend Gassen und wieviel kommendes, werdendes Leben – überall Kinder, Kinder in allen Farben und Mischungen, und all dieser Tumult von Farbe und Bewegung – dies das typisch Brasilianische – gleichzeitig gedämpft durch eine stille Freundlichkeit, ein gutes Miteinandersein; wo immer man wandert und bis in die verlassensten und ärmsten