kommt die im Alltag oftmals fehlende Wertschätzung gegenüber Müttern. Dass in der U-Bahn oder im Bus Menschen für eine Mutter mit Kind Platz machen, kommt außerordentlich selten vor. Wenn ich mit dem Kinderwagen unterwegs war und mal wieder an einer S- oder U-Bahn-Station mit defektem Fahrstuhl ausgestiegen bin, musste ich nicht selten viele lange Minuten unten an der Treppe warten. Meist sind es ältere Frauen und junge Männer um die 20, die von selbst anbieten zu helfen. Ganz schlecht ist es, einen Mann zwischen 40 und 60 um Hilfe zu bitten, die haben in der Regel alle „Rücken“ …
Mir kommt es so vor, als hätte ich zu der Zeit, als meine Kinder klein waren, mehr Achtung erfahren. Ob es daran lag, dass wir in Lübeck, also in einer kleineren Stadt, lebten oder sich die Zeiten geändert haben, kann ich nicht sagen. Ich glaube eher, dass vielen Menschen das Einfühlungsvermögen und die Empathie für ihre Mitmenschen abhandengekommen sind. Sehr viele leben offensichtlich gnadenlos nach dem Motto „Me first“.
Auch Mütter selbst erlebe ich manchmal als äußerst ichbezogen. Nach dem Motto „Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter“ parken sie ihren Kinderwagen mitten auf der Straße oder quer im Laden und machen sich scheinbar auch nicht nur ansatzweise Gedanken darüber, ob sie andere damit behindern.
Helikoptermütter gab es allerdings auch früher schon, das ist durchaus keine neue Erscheinung. Als meine Kinder klein waren, kannte ich einige Frauen, für die das Muttersein ihr einziger Lebensinhalt zu sein schien. Sie machten aus der Ernährung ihrer Kinder eine Wissenschaft, stellten aus Angst vor Schadstoffen möglichst alles selbst her und wollten auch andere Mütter nur allzu gern zu ihrer Ansicht bekehren.
Meine Schwiegertöchter erlebe ich in dieser Beziehung als recht gelassen. Sie achten natürlich auf die Ernährung ihrer Kinder, beginnen aber nicht bei jedem Gummibärchen oder Karamellbonbon eine Grundsatzdiskussion. Nina, Ilka und Madeleine sind einfach großartige Frauen, die es auf bewundernswerte Weise schaffen, den Spagat zwischen Familie mit Kindern und einem anspruchsvollen Job hinzukriegen. Freitags treffen wir uns immer alle bei mir zum Kaffeetrinken. Ich koche Kaffee und Tee, die drei bringen Kuchen mit. Und während wir herrlich erzählen, sitzen die Enkel im Spielzimmer und schauen sich Kinderfilme an. Das Ganze hat sich im Lauf der Jahre zu einem schönen Ritual entwickelt, das wir, denke ich, alle nicht mehr missen wollen.
Über Anna …
„Ich war gerade 30, frisch getrennt und hatte das Gefühl, ich würde nie wieder im Leben einen Mann kennenlernen. Doch dann kam plötzlich Johannes, der älteste Sohn von Anna, und ist mit seinem unwiderstehlichen, ihm ganz eigenen Charme in mein Leben eingebrochen, sodass ich völlig hin und weg war und es bis heute noch bin.
Zum ersten Mal gesehen habe ich Anna ein paar Tage später in der Studentenbude von Johannes. In seiner Einzimmerwohnung hingen einige Fotos der Familie, unter anderem ein Porträt von ihr bei einem ihrer Model-Jobs. Das wusste ich nur damals noch nicht. Auf diesem Foto schaut eine Frau mit kurzem weißem Haar, Perlenkette und hochgerecktem schlankem Hals streng an der Kamera vorbei. Bei dem Familiennamen ‚von Rüden‘ ahnte ich Schlimmes …
Ich stellte mir Johannes’ Mutter als eine disziplinierte, kühle und strenge Aristokratin vor, an der ich mir wohl ein bisschen die Zähne ausbeißen würde. Oder eher noch sofort bei der ersten Begegnung in Ungnade fallen würde. Johannes aber wollte mich so schnell wie möglich seiner Familie vorstellen, was ich so lang wie möglich versuchte hinauszuzögern. Die Hochzeit seines Bruders Wilhelm vermied ich noch, ich war zu schüchtern, um dort als Neuling reinzuplatzen.
Dann aber war es so weit: Ich betrat eine riesige Sechs-Zimmer-Altbauwohnung in der Mommsenstraße in Charlottenburg, dem feinen Westen der Stadt. Alle meine Klischees schienen sich zu bestätigen: Ich betrat eindeutig eine mir fremde Welt. Ich bin in Wannsee groß geworden, in einem Einfamilienhaus aus den 1980er-Jahren, und so etwas hatte ich bislang noch nicht gesehen. Am liebsten wäre ich rückwärts wieder hinausgestolpert. Aber da kam Anna, und das Bild veränderte sich mit einem Mal: Sie begrüßte mich ruhig und herzlich und so einladend, dass ich vom ersten Moment ein Gefühl von Willkommensein und Geborgenheit spürte.
Dieses Gefühl hat sich in den folgenden Jahren immer weiterentwickelt, ist zu einem echten Vertrauensverhältnis geworden, und ich sehe, dass das nicht nur für mich, sondern für alle Neuzugänge in der Familie gilt. Annas Lebensmittelpunkt ist die Familie, sie hat eine unglaubliche Art, für die Familie da zu sein und sie zusammenzuhalten. Nicht nur einmal hat sie zu mir gesagt, das Wichtigste im Leben seien für sie die Kinder. Das ist ein Satz, mit dem ich mich zu 100 Prozent identifizieren kann. Nie werde ich vergessen, wie Anna völlig unvermittelt anbot, auf unseren kleinen Sohn Paul aufzupassen, während ich nach dem Elternjahr in meinen Vollzeitjob in der Klinik zurückkehren sollte und wollte, um meine Facharztausbildung zu beenden. Wir liefen damals über den Ku’damm, sie schob den Kinderwagen mit Paul und sagte es so ernst, aber gleichzeitig so leicht und selbstverständlich, dass ich dachte: Weiß sie eigentlich, worauf sie sich da einlässt, jeden Tag von morgens bis abends ein einjähriges Kind, bei meinen Nachtdiensten und Überstunden? – Anna hat diese Zusage ein ganzes Jahr lang voll durchgezogen, ohne sich je anmerken zu lassen, wie anstrengend das gewesen sein muss, obgleich sie manches Mal doch recht müde aussah, wenn ich Paul abends abholte. Dafür liebt Paul, wie alle anderen Enkelkinder, seine Oma über alles. Und mir hat Anna durch diese uneigennützige und großartige Hilfestellung die Möglichkeit gegeben, meine berufliche Selbstverwirklichung zu erreichen.
Bemerkenswert finde ich dabei aber auch gerade den Umstand, dass Anna trotz ihrer Hingabe für die Familie ihre Arbeit als Model konsequent ernst nimmt und durchzieht. Wenn Anna zur Arbeit geht, geht sie zur Arbeit, dann steht sie für andere Dinge nicht zur Verfügung. Dieses Prinzip, eine klare Linie zu haben und sich daran zu halten, sich nicht vollständig vereinnahmen zu lassen und auch eine eigene kleine Nische für sich zu haben, finde ich bewundernswert.
Das passt auch zu ihrem Standpunkt, sich allen gegenüber neutral zu verhalten. Wie es in einer großen Familie nun mal ist, ist es auch in der Familie von Rüden eigentlich nie ruhig. Es passiert immer etwas, und des Öfteren gibt es auch Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Familienmitgliedern, mal kleine, mal große. Anna beeinflusst auf eine kaum wahrnehmbare, aber wirkungsvolle Art das Geschehen. Nie würde sie sich offensiv einmischen, aber wenn sie gefragt wird, kann man sich darauf verlassen, dass sie eine objektive Meinung vertritt, unabhängig von ihrem Verhältnis zu den Beteiligten.
Etwas, was ich an Anna ebenfalls besonders schätze, ist ihre Art, trotz eigener Meinung und Versuche, die Dinge subtil zu beeinflussen, die Entscheidungen und das Handeln der anderen Seite zu akzeptieren. Auch wenn sie vielleicht anderer Überzeugung ist, würde sie sich nie enttäuscht abwenden oder einem die kalte Schulter zeigen. Sie sagt ihre Meinung, aber sie lässt den Dingen trotzdem ihren Lauf und begleitet sie, egal wie sie ausgehen. Das führt zum Beispiel dazu, dass Johannes manchmal wochenlang keinen Kontakt zu seiner Mutter hat – aber wenn ihn etwas ernsthaft drückt, sucht er den Weg zu Anna, ebenso wenn er eine große Freude mit ihr teilen will.
Anna hat inzwischen elf Enkelkinder, und sie schafft es, jedem Kind die gleiche Aufmerksamkeit und Liebe zu vermitteln. Und auch hier staune ich: Unser Rabauke Theo hat großen Respekt vor Oma Annas ‚Nein‘, und unsere kleine anhängliche Hermine, die bei niemandem bleiben würde, hat nach anfänglichem Fremdeln dann doch vor allen anderen Menschen zuerst zu ihrer Oma Vertrauen gefasst und geht bei ihr an der Hand, wenn Mama nicht verfügbar ist. Und Baby Wilma, ganz der Vater, liebt seine Oma über alles.
Wir alle wohnen in derselben Stadt wie Anna und ich glaube, wir wohnen hier nicht nur deshalb, weil es Berlin ist und es in Deutschland keine großartigere Stadt gibt als diese – wir wohnen hier, weil wir auch durch Anna hierhergehören. Keines von Annas vier Kindern ist fortgezogen, obwohl die Familie in den Kindheitstagen einige Male den Wohnsitz wechselte und sich die Kinder von daher doch eine gewisse Ungebundenheit zu eigen gemacht haben könnten. Doch alle sind in Berlin geblieben – weil Anna in Berlin ist. Welche Familie kann das schon von sich sagen? ‚Schwiegermutter‘ ist ja ein eher zwiespältiger Begriff, bei dem einem oftmals als Erstes schwierige Verhältnisse, Spannungen und das Vermeiden von zu viel Nähe einfallen. Bei Anna ist es aber anders. Ganz anders. Darum würde ich für mich als Beschreibung, wie ich Anna