Stefan Ahmann

Das Mysterium der Einheit in der Vielheit


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noch die Lunge entscheidet irgendetwas, noch das Gehirn entscheidet irgendetwas. Es gibt nur eine einzige Entscheidung, nämlich die Entscheidung, sich mit einigen dieser hier beschriebenen Prozesse zu identifizieren und ein Bündel dieser Prozesse zu seinem Ich zu erklären; oder aber dieses nicht zu tun und als das Bewusstsein, das die Grundlage von allem ist, zu verharren, indem man wirklich „selbstbewusst“ ist, nämlich sich seiner selbst als Bewusstsein bewusst ist.

      Diese Prozesse sind insofern individualisiert, als, ebenso wie Wasser, das als Fluss durch eine Landschaft zum Meer fließt, sich bestimmte Wege sucht, die sich immer tiefer in die Landschaft eingraben, sich auch in unserem Gehirn, unserem Gedächtnis und unserem Körper - feinstofflich und grobstofflich - all unsere Erfahrungen und Handlungen einprägen, wodurch sich bestimmte Erfahrungen und Handlungen immer wieder wiederholen. So schaffen wir „Karma“, was auch bedeutet, dass wir innerhalb des großen geistigen Systems, in dem wir leben, die Früchte guter und schlechter Taten ernten. Aber jede Tat, egal ob gut oder schlecht, ist nur dann eine Tat, wenn es einen Täter, einen Handelnden gibt. Ein Handelnder, das ist aber immer jemand, der sich mit der Tat oder mit einem Prozess identifiziert; nur durch Identifikation entsteht Karma, ohne Identifikation löst es sich mehr und mehr auf und die geistige Freiheit wird allmählich immer größer.

      Das Merkwürdige ist aber, dass, auch wenn wir die Freiheit nur in uns selbst finden können, doch der Impuls zur Freiheit aus der Welt, von „außen“ kommt: durch die tiefen Lehren der Weisen der Menschheit, durch spirituelle Lehrer, durch bestimmte Erlebnisse, die uns aus unserer materiellen Zufriedenheit herauswerfen. So gesehen arbeitet „Maya“ selbst strukturell an unserer Befreiung mit und so wie es in der Welt sehr dunkle Stellen und Impulse gibt, so gibt es auch sehr helles Licht. Langfristig führt uns die Erfahrung der Polarität von Licht und Dunkelheit zum Licht, zur Befreiung und zur Freude.

      Gewissermaßen zeigt auch die Tatsache, dass unser höchstes Ziel, das hinter allem steht, was wir im Leben tun, bedingungsloses Glück ist, dass eben dieses Glück, diese Freude, unser wahres Wesen ist: bedingungsloses Glück, das darin besteht, dass das Bewusstsein sich als eins mit aller Realität erlebt, als Einheit-in-der-Vielheit.

      Die Ashtavakra Gita beschreibt, auf welche Weise der Geist oder das Bewusstsein kreativ ist. Dort heißt es: „Wenn der große unermessliche Ozean meines Selbst Freude empfindet, entstehen 1000 Welten wie Wellen. Wenn der große unermessliche Ozean meines Selbst Ruhe empfindet, verschwinden die Welten, wie Händler mit ihren Booten. Es ist wunderbar, wie in dem großen unermesslichen Ozeans des Selbst Existenzen leicht oder natürlich entstehen, sich vervielfältigen, spielen und zurück zur Quelle kehren.“ Diese Beschreibung ist letztlich wie die hinduistische Dreieinigkeit aus Schöpfer, Erhalter und Zerstörer. So ist der Geist, so ist unser göttliches Bewusstsein.

      Die Advaita-Lehre nach Swami Vivekananda ist an Klarheit kaum zu übertreffen: Es gibt das Absolute und es gibt das Universum. Das Universum ist das Absolute, das in den Formen von Raum, Zeit und Kausalität erscheint. Sie scheinen zwei zu sein, sind aber nicht zwei. Das Absolute ist das Primäre. Das Universum ist das Sekundäre. Und doch ist die Beziehung zwischen ihnen keine Kausalbeziehung, denn die Kausalität beschränkt sich auf das Universum. Das Primäre umfasst das Sekundäre. Die primäre Realität beinhaltet schon die sekundäre. Aber das Universum, die sekundäre Realität, beinhaltet nicht die primäre, das Absolute. Sie ist relativ. Sie existiert nur relativ zum Absoluten. Das Absolute ist jenseits von Raum, Zeit und Kausalität.

      Vivekananda sagt: Erst wenn man die Freiheit des wahren Selbst erreicht hat, kann man sein wahres Selbst manifestieren.

      Die Lehren des Advaita Vedanta sind so einfach und klar, dass sie schnell überzeugen können. Vom intellektuellen Standpunkt aus lassen sie dem getrennten Selbst, dem Ego, kaum eine Chance. Auch das von uns intuitiv wahrgenommene Wesen ihrer Lehrer, ihr zufriedener, gelassener Zustand, scheinen die Richtigkeit dieser Lehren zu bestätigen.

      Advaita Vedanta ist eine sehr klare philosophische Lehre, die eins-zu-eins nachvollziehbar ist. Dennoch ist das, worauf sie hindeutet, etwas, das nicht eins-zu-eins rational nachvollziehbar ist und in diesem Sinne etwas Mystisches. Das Klare und Nachvollziehbare des Advaita Vedanta ist demnach etwas Zweischneidiges: Einerseits ist es sehr hilfreich, weil es nachvollziehbar ist und überzeugend ist. Aber andererseits kann es irreführend sein, indem man denkt, man hätte nun eine absolute Wahrheit in Händen und sei bereits am Ziel. Ebenso wird auch Jesus falsch verstanden, wenn man seine Lehren wörtlich und dualistisch auffasst. Auch sie müssen mystisch und nicht-dualistisch verstanden werden, damit ihr Sinn sich erschließt. Da Jesus in Bildern spricht, ist jedoch das Mystische und Wunderbare in seiner Lehre viel prominenter als in der vergleichsweise kühlen Philosophie des Advaita Vedanta. Jesus und die Figur Jesu sprechen zum Herzen und ergänzen und vervollständigen daher die kopforientierte Lehre des Advaita Vedanta.

      Da es verschiedene Schulen gibt (die Upanishaden, ihre Auslegung von frühen Philosophen, wie Shankara, bis hin zum Neo-Advaita und zum Neo-Vedanta), sollte man klarstellen, dass die Upanishaden die Grundlage bilden, dass aber gleichzeitig viele „moderne“ Lehrer sehr gute „Hinweisschilder“ oder „Pointer“ haben, auch dann, wenn sie sich selbst gar nicht als Advaita-Lehrer sehen. Shankaras radikale Lehre der vollständigen Einheit von Atman und Brahman führte auch bald zu Widerspruch unter verschiedenen anderen Vedanta-Lehrern, die die Upanishaden anders auslegten. So entstanden die Schulen des Vishishtadvaita-Vedanta, ein modifiziertes Advaita Vedanta, das philosophisch einiges richtigstellt, ferner Achintya Bhedabheda, Dvaitadvaita, Shuddhadvaita und Dvaita-Vedanta.

      Im Advaita Vedanta werden traditionell folgende Methoden angewendet: 1) Satsang: Hören der Lehre von einem Guru; 2) Verinnerlichung des Wissens durch Reflexion; 3) Meditation. Neben diesen drei Schritten gibt es eine Vielzahl von Hilfsmitteln, die die geistige Befreiung vorbereiten: Viveka (Unterscheidung zwischen Realität und Illusion), Loslösung vom Vergänglichen, Geisteskontrolle, Ausdauer, Glaube, innere Sammlung usw. Das Wichtigste aber ist der tiefe, alle anderen Wünsche überstrahlende Wunsch, befreit zu werden. Die Lehre lässt sich auch in vier „Großen Sprüchen“ zusammenfassen: Tat tvam asi: Du bist Das; Aham brahmasmi: Ich bin Brahman; Ayam atma brahma: Das Selbst (Atman) und der universale Geist (Brahman) sind eins; Prajnanam brahman: Bewusstsein ist Brahman. Ein weiterer Spruch ist „Neti, neti“: Nicht das, nicht dies. Wenn man erkannt hat, dass alle Objekte nicht das Selbst sein können, bleibt nur noch das, was nicht benannt werden kann, übrig.

      Es muss ausdrücklich davor gewarnt werden, ausschließlich Satsang und das Hören von Advaita-Lehrern als Weg zu betrachten. Allerdings ist es so, dass der „traditionelle“ Advaita-Weg unter Umständen auch wieder zu kompliziert wird. Etwa bei den sogenannten „Vier Mitteln der Erlösung“ (Sinneskontrolle, Abneigung gegenüber weltlichen Dingen, Überwindung niederer Triebe usw.) gilt es, darauf zu achten, dass man sie nicht missversteht, denn es geht nicht um (erzwungene) Askese, um Unterdrückung der „Natur“, sondern um die Reduktion von Ablenkungen, um Raum für Verinnerlichung und Innenschau. Ich empfehle also einen mittleren Weg zwischen einem sehr komplexen und einem zu einfachen.

      Advaita Vedanta ist das Leerwischen der Tafel des Bewusstseins von allen Irrtümern und Illusionen und so entsteht Raum für die Wahrheit der Einheit und der Liebe.

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