H. T. Thielen

DAS MEDIZIN-ESTABLISHMENT


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den Heilungsprozess erst entfacht. Das Heilverfahren ist dann erfolgreich, wenn die Ärzte das Richtige in einer positiven Beziehung vermitteln. Gespräch ist Therapie. Andere Staaten haben dies erkannt, gehandelt, und aufgrund dessen die Patientenanzahl pro Arzt explizit begrenzt. Damit wird der Interessenkonflikt – mehr Patienten, mehr Einnahmen – substanziell reduziert und überdies die Möglichkeit geschaffen, das Zeitfenster des Arzt-Patient-Gespräches zu erweitern.)

      Das hierzu oft angeführte Argument der Ärzte, allen hilfesuchenden Patienten zu helfen und sie mit ihrer Krankheit nicht alleine zu lassen, ist zweifellos eine ehrenvolle Begründung und in bestimmten Situationen geradezu verantwortungsvolle Pflicht. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass die „7,6-Minuten-Praxis“ zum Regelfall wird.

      Die möglichen Folgen sind ärztliche Behandlungsfehler. Sie sind ein prägnantes Beispiel für fehlende Sorgfalt und ungenügende Anamnese aufgrund von Zeitmangel bei der Diagnostik. Laut einer Studie der Universität Witten/Herdecke sterben jährlich allein in deutschen Kliniken mehr als 21.000 Patienten durch vermeidbare Behandlungsfehler. Dazu kommen noch ca. 190.000 Fehler ohne Todesfolge; die Dunkelziffern sind nicht publik.89

      Zu viele, denn jeder Fehler ist einer zu viel.

      Behandlungsfehler darf man gleichwohl nicht mit Pfusch gleichsetzen, denn alle Ärzte wollen selbstredend dem Patienten helfen. Zwischen Heilung und Schädigung liegt aber oft nur ein schmaler Grat, und die kleinste Unachtsamkeit kann schwerwiegende Folgewirkungen haben. Auch wenn der zeitliche Behandlungsdruck spürbar ist und ökonomische Maßgaben vorliegen, so müssen Ärzte sich doch mit voller Kraft für die Heilung, die Qualität der Behandlung und damit für die Sicherheit der Patienten einsetzen, denn hinter jeder gesundheitlichen Komplikation steht ein menschliches Schicksal.

      Im Krankheitsfall hat jeder Mensch in Deutschland das Recht auf eine angemessene medizinische Behandlung. Diese ist – objektiv betrachtet – in der kurzen Zeitspanne von 7,6 Minuten nicht möglich. Wenn nun die Zahl der potenziellen Patienten anwächst, dann muss, um die notwendige Behandlung sicherzustellen, parallel dazu die Anzahl der zur Verfügung stehenden Ärzte ansteigen.)

      Es ist eine fundamentale und äußerst wichtige Aufgabe des Staates, dafür Vorsorge zu tragen, dass eine flächendeckende, medizinisch hochwertige Behandlung für alle Teile der Bevölkerung flächendeckend gegeben ist. Der Staat hat definitiv die verbindliche Schuldigkeit, vorausschauend und vorausplanend, die hierfür notwendigen Maßnahmen zu treffen. In der Bundesrepublik gibt es 16 Bildungsministerien, mehr als in allen anderen Staaten der Welt, um derartige, für die Bevölkerung essenziellen, Sachverhalte zu erkennen und auftretende Probleme zu lösen.

      In den Arztpraxen reihen sich die potenziellen Interessenkonflikte nahtlos aneinander. Nach der Anamnese geht es für den Arzt darum, eine geeignete Heilbehandlung einzuleiten. In der Regel werden therapiespezifische Medikamente verordnet und die Patienten gehen anschließend mit einem Rezept zur nächsten Apotheke.

      Die Auswahl der Arznei obliegt selbstverständlich der fachlichen Kompetenz des Arztes. In dieser Situation kann er indes erneut in einen großen Interessenkonflikt geraten. Welches Mittel verordnet er? Möglicherweise die beste Medizin für den Patienten oder doch die preiswertere Variante, vielleicht wählt er aber auch die einträglichste Option für ihn persönlich, denn: Kassenärzte dürfen von den Pharmaunternehmen Provisionen für verordnete Medikamente annehmen.

      Der Bundesgerichtshof hat 2012 in einem Grundsatzurteil entschieden, dass Kassenärzte sich nicht wegen Bestechung strafbar machen, wenn sie von Pharmaunternehmen Gelder für die bevorzugte Verordnung von deren Medikamenten annehmen. Das Gericht sprach zwar von korruptem Verhalten, was nach geltendem Recht jedoch nicht strafbar ist; diese Gesetzeslage gilt im Umkehrschluss auch für die Pharmareferenten.90

      Gleichwohl verschiedene Patientenschutzorganisationen, Krankenkassen und selbst einzelne Politiker nach einer Änderung der bestehenden Rechts- verordnung verlangten – die Bestechlichkeit von Ärzten ist kein Kavaliersdelikt – hat sich bis heute an der Gesetzeslage nichts verändert. Ein äußerst bedenklicher Zustand in einem Rechtsstaat! Wie können die Patienten ihren Ärzten vertrauen und daran glauben, dass ihr Wohl im Vordergrund steht, wenn Korruption in der medizinischen Praxis behördlicherseits erlaubt ist?)

      Zumindest nicht durch eine Gesetzeslage, in der Bestechlichkeit legalisiert ist! Will man das Vertrauen der Patienten und damit das Ansehen sowie den gesellschaftlichen Status des Arztberufs erhalten, so sind schärfere gesetzliche Regelungen zwingend erforderlich. Die Medizin ist zwar ein Erwerbszweig, der Patient darf jedoch nicht als bloße Einnahmequelle betrachtet werden.

      In den deutschen Arztpraxen ergeben sich, für charakterlich schwache Seelen, täglich weitere günstige Gelegenheiten, um Provisionen zu generieren, so z. B. durch Therapieempfehlungen.

      Nicht wenige Patienten müssen zur erfolgreichen Weiterbehandlung beispielsweise an Fachärzte, Kliniken oder zur psychologischen bzw. physiotherapeutischen Behandlung überwiesen werden. Andere benötigen medizinische Geräte oder Hilfsmittel, über die der Hausarzt entscheidet. Blutbilder, MRTs, CTs, Screenings und viele andere Untersuchungen mehr werden täglich außerhalb der Hausarztpraxis durchgeführt und müssen aufgrund der Vorschriften in unserem Gesundheitssystem vom behandelnden Arzt verordnet werden. Die Überweisung zum Spezialisten ist aller Voraussicht nach für die Patienten die beste Lösung, doch leider gibt es nicht wenige Mediziner, die auch aus diesen Serviceleistungen noch Kapital schlagen.

      Andere Ärzte versuchen, oft zum Leidwesen der Patienten, trotzdem ihr Glück und therapieren weiter, denn nur bei einer faktischen Behandlung verdienen sie Geld. Dass derartige Maßnahmen unverantwortlich, ja kriminell sind, muss nicht gesondert betont werden.

      Eine Tatsache, die wenig kommuniziert wird, betrifft die überwiegende Mehrzahl der durchgeführten Therapiemaßnahmen: Medizin suggeriert Heilungserfolge, die aber in vielen Fällen wissenschaftlich nicht belegt sind.

      Nach Informationen der Cochrane Stiftung91 haben von den ca. 600 üblichen medizinischen Behandlungsmaßnahmen (Medikamente/Therapien) nur lediglich 4 % den wissenschaftlichen Nachweis einer signifikanten Wirksamkeit erbracht; die anderen 96 % werden, da in der medizinischen Praxis geläufig, ohne nachweislichen Nutzen angewandt.92 Mit anderen Worten: Viele medizinische Maßnahmen stützen sich nicht, wie immer wieder versichert wird, auf evidenzbasierte Studien.

      Trotzdem ist eine große Zahl der therapeutischen Maßnahmen erfolgreich, auch ohne wissenschaftliche Signifikanz. In jedem Menschen wirken fortwährend Selbstheilungskräfte und die Behandlungserfolge der Medizin sind daher – redliche Ärzte bestätigen dies – immer das Ergebnis der Selbstheilung, oftmals völlig unabhängig von der Therapie.

      Medizinische Praxis bedeutet weitaus mehr als die Verordnung von Arzneien. Eine wichtige Aufgabe aller Heilberufler ist es daher, die inneren Ressourcen der Patienten zu fördern, sodass sie sich stärker fühlen, damit ihre Selbstheilungskräfte aktiviert und unterstützt werden. Somit erhält die vertrauensvolle Interaktion zwischen Patienten und Arzt eine tiefgreifende und entscheidende Bedeutung. Es geht nicht mehr primär um eine wissenschaftlich korrekte Anamnese und um evidenzbasierte Arzneien, sondern um Zuwendung und Förderung im ganzheitlichen Sinne, sodass Körper, Seele und Geist gleichzeitig angesprochen werden.

      Auch in einer extrem wissenschaftlich-materialistischen Welt – alles muss scheinbar unwiderlegbar bewiesen sein93 – ist in vielen Fällen die Erfahrung des Therapeuten für die Genesung entscheidend. Manche Arzneien haben sich in der Praxis einfach bewährt, ohne Bestätigung einer evidenzbasierten Studie. Andere Mittel, insbesondere naturbelassene Substanzen, aktivieren erst die Selbstheilungskräfte. In der Konsequenz sind nicht alle Therapien als nutzlos zu bezeichnen, für die keine evidenzbasierten, randomisiert-kontrollierten und wissenschaftlich definierten Resultate vorliegen.

      Das bedeutet aber auch, dass die Patienten den Ärzten vertrauen müssen. Bedauerlicherweise wird dieses Vertrauen durch die vielen potenziell möglichen Optionen therapeutisch unredlicher Schritte häufig wieder genommen.

      Alle medizinischen Maßnahmen, wie Medikamentengabe oder Operationen, haben zu einem gewissen Prozentsatz immer schädliche Nebenwirkungen oder