dran.
Jaycee in Outdoor-Kleidung war ein komischer Anblick. Normalerweise trug sie Springerstiefel und einen schwarzen Pullover vom Highschool-Orchester, heute aber hatte sie die nötigen Wanderklamotten an, inklusive einer Fleecejacke.
»Was stehen wir hier noch rum?«, fragte Jaycee. »Lasst uns loslegen.«
Arlo hätte es nett gefunden, wenn sie sich dem Rest des Trupps wenigstens vorgestellt hätte, vermutete aber, dass seine Schwester genauso nervös war wie er.
»Schreib noch eine letzte Nachricht an Mom«, sagte Arlo. »Aber stell keine Frage. Du willst nicht, dass sie antwortet.«
»Wie wäre es mit einem Katzen-Meme?«, schlug Wu vor. »Alle mögen Katzen-Memes.«
Jaycee hatte die Augen zu Schlitzen verengt und starrte Wu an. Arlo hatte diesen vernichtenden Blick seiner Schwester schon Tausende Male gespürt und wusste ihn zu ignorieren, konnte aber sehen, wie er Wu verunsicherte. Ihm wurde klar, dass er sich auf Spannungen zwischen Wu und seiner Schwester einstellen musste. Vor ihnen lag eine lange Reise.
»Ich schreibe ihr, dass ich mein Ladekabel nicht finden kann«, sagte Jaycee. »Wenn ich nicht antworte, wird sie denken, mein Akku ist leer.«
Arlo musste zugeben, dass dies ein ganz schön cleverer Plan war. Seine Schwester hatte offenbar Übung in so was. Es war erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit Jaycee ihrer Mutter weisgemacht hatte, dass sie wegen eines Klassenprojekts bei einer Freundin schlafen würde.
Wie viele solcher Märchen hat Jaycee über die Jahre wohl schon erzählt?, fragte er sich. Plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er seiner Mom nicht die Wahrheit über dieses Wochenende gesagt hatte. Technisch gesehen, war es keine Lüge gewesen, beruhigte er sich. Der Blaue Trupp würde ja wirklich am Fluss zelten und die neuen Kocher ausprobieren. Nur würde Arlo Finch eben nicht dabei sein, genauso wenig wie Henry Wu. Wenn alles nach Plan lief, würden sie zusammen mit seiner Schwester stattdessen die halbe Welt umrunden.
Sobald Jaycees Nachricht verschickt und angekommen war, schaltete sie das Handy aus. Arlo, Wu und Jaycee schulterten ihre Rucksäcke und verabschiedeten sich vom Trupp.
»Vergesst nicht, euch zu melden, wenn ihr wieder da seid«, sagte Indra.
»Und vergesst nicht, am Leben zu bleiben«, fügte Julie hinzu.
Arlo sah Wu an. »Du weißt, dass du nicht mitkommen musst.« Obwohl Wu bei der Planung eine entscheidende Rolle gespielt hatte, ging es bei der Mission nicht um ihn. Arlo hätte es ihm nicht übel genommen, wäre er lieber in Pine Mountain geblieben.
»Glaubst du ernsthaft, ich würde mir das entgehen lassen?« Wu wies mit seinem Wanderstock in den Wald. »Los geht’s.«
DIE STADT DER VERLORENEN DINGE
Die Long Woods führen überallhin. Das war eine der ersten Lektionen, die Arlo vor fast einem Jahr bei seiner Ankunft in Pine Mountain gelernt hatte.
Indra und Wu hatten ihm erklärt, dass die Long Woods nicht zur normalen Welt gehörten, sondern vielmehr an abertausend verschiedenen Orten rund um den Globus mit ihr verbunden waren. Arlo hatte erfahren, wie Connor und seine Cousine als Kinder in die Woods gelockt worden waren. Die Cousine – Rielle – war schließlich bei den geheimnisvollen Magus geblieben, während Connor Hunderte von Meilen entfernt in Kanada wieder aufgetaucht war. Die seltsame Geografie der Long Woods war der Grund, warum Entfernungen dort anders funktionierten. Man konnte nur ein paar Stunden wandern und dennoch am anderen Ende der Welt landen.
Das war es, worauf Arlo hoffte. Aber zuerst musste er herausfinden, wo genau es langging.
Als Arlo, Wu und Jaycee den Trupp am Flussufer zurückließen, stand ihm klar vor Augen, wohin sie sich zunächst wenden mussten: zur zerbrochenen Brücke. Von allen Orten, die er in den Woods besucht hatte, war dieser ihm der vertrauteste. Er hatte in diesem Sommer (und in einem anderen Sommer vor dreißig Jahren) viele Stunden dort verbracht.
Sie hatten sich den Zeltplatz in Old Pine Mountain unter anderem deshalb ausgesucht, weil er nur zehn Minuten entfernt von einem zuverlässigen Eingang in die Long Woods lag. Um dorthin zu gelangen, mussten sie zunächst einmal den Fluss überqueren – und ihn dann ein zweites Mal überqueren.
»Warum bleiben wir nicht einfach auf der einen Seite?«, fragte Jaycee. Sie schien genervt, weil ihre Wanderschuhe schon durchnässt waren.
»So funktioniert das nicht«, sagte Wu.
»Aber wir sind wieder da, wo wir losgelaufen sind!«
»Wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte Arlo. »Du musst mir einfach vertrauen.«
Obwohl die Long Woods überall waren, war es nicht leicht, sich in ihnen von A nach B zu bewegen. Orte in den Woods ließen sich nicht kartieren und ebenso wenig die Durchgänge, die hinein- und herausführten. Man musste sich von seinem Gefühl leiten lassen.
Ursprünglich hatte Arlo sich bei der Suche nach einem Weg auf die zarten Vibrationen seines Ranger-Kompasses verlassen, aber mit wachsender Erfahrung vertraute er auf seinen Instinkt. Arlo konnte sich, ganz egal, wo in den Long Woods er sich gerade befand, einen vertrauten Ort wie ihr Haus oder die Goldene Pfanne vorstellen und spüren, wo er war. Danach war es ein Leichtes, in diese Richtung zu gehen.
Nun ja, leicht für ihn. Tatsächlich war Arlos Gabe, Wege in den Long Woods zu finden und ihnen zu folgen, erstaunlich. Wie Rielle war er ein Tooble mit verschiedenfarbigen Augen und einem Geist, der in ihm gefangen war. Diese Doppelnatur machte es ihm möglich, sich wie kein anderer Ranger, den er kannte, in den Long Woods zurechtzufinden – abgesehen vom schurkischen Hadryn. Und Hadryn war nun ein Gefangener der Magus.
Vor ihnen ruhte ein gewaltiger Findling in der Sonne. Er sah aus wie ein steinerner, von Flechten überwucherter Wal. Arlo griff in einen Spalt auf Höhe seines Gesichts und zog sich, mit den Füßen nach Tritten suchend, an ihm hoch.
»Können wir nicht einfach drum herumgehen?«, fragte Jaycee.
»So funktioniert das n…« Wu brach im Satz ab, Jaycees Blick hatte ihn zum Schweigen gebracht.
Arlo verstand, warum Jaycee verwirrt und genervt war. Sie kam aus einer normalen Welt voller Orchesterauftritte und Standardtests. In den Long Woods machte nichts Sinn, bis man es mit eigenen Augen sah.
»Wir gehen hier hoch«, sagte er bloß.
Jaycee klemmte ihren Fuß in die Spalte und stemmte sich hoch. Arlo griff nach ihrer Hand und half ihr das letzte Stück. Als sie oben auf dem Findling standen, ließ seine Schwester ein leises Wow hören.
Wow traf es gut. Sie standen keineswegs auf einem Findling, sondern auf einem der herabgestürzten Steine unterhalb der zerbrochenen Brücke, eines riesigen Bauwerks, das sich zur Hälfte über einen steil abfallenden Abgrund erstreckte, den Arlo für bodenlos hielt.
Hinter ihnen kam Wu geklettert. Er war schon zuvor hier gewesen, doch der Anblick beeindruckte einen immer wieder neu.
»Du musst leise sprechen«, flüsterte Arlo Jaycee zu. »Unter der Brücke lebt ein Troll.«
»Und der ist nicht das einzige gefräßige Wesen hier«, sagte eine Stimme am Fuß des Steins. Sie sahen hinab und entdeckten einen kleinen Mann mit einem Zwirbelbart, der in einem Flecken Sonnenlicht saß und gerade den letzten Bissen Fleisch vom Kadaver eines frisch getöteten Vogels nagte.
Es war Fox.
»Dachte mir, ich sollte noch schnell was essen«, sagte er und leckte sich die Finger, »für den Fall, dass es das letzte Mal ist.«
Fox ging so schnell, dass sie Mühe hatten, ihm zu folgen – ihm und seinen komplizierten Sätzen, die immer irgendwo kehrtzumachen schienen.
»Nicht ein Geist in diesen Woods würde euch dorthin mitnehmen,