John August

Arlo Finch (3). Im Königreich der Schatten


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verbunden. Elektrische Kabel führten zu quietschenden Windrädern und zu mit Klebeband zusammengehaltenen Sonnenkollektoren auf den Dächern. Beidseits der Straße standen Karren und Tische, auf denen sich Essen, Waffen und Fundgut türmten. Arlo sah mechanische Schreibmaschinen, Eisenkreuze, Spanferkel, Zaubertrankgläser, mittelalterliche Lauten, ein Rechenbrett, Puppen, Handkreisel und ein Videospiel von Atari: E.T. – Das Spiel.

      Die Anbieter und Käufer sahen allesamt menschlich aus, sämtliche Ethnien waren vertreten. Viele hatten Tiere bei sich: Hunde, Hühner, zweiköpfige Eidechsen an Leinen. Der größte Teil der Feilscherei fand auf Englisch statt, aber die Akzente ließen darauf schließen, dass nicht alle Muttersprachler waren.

      »Wohnen diese Menschen hier?«, fragte Wu.

      »Einige schon, denke ich«, sagte Arlo. Mithilfe der wenigen auffindbaren Schriftstücke über die Long Woods hatte er zwischen den Longborns – Leuten, die in den Long Woods geboren waren – und jenen unterscheiden gelernt, die erst später im Leben hergekommen waren, den Streichern. Fallbach war offensichtlich die einzige dauerhafte Niederlassung in den Long Woods, sodass es zu einem Zentrum für den Handel geworden war – dem legalen und dem anderen.

      Allmählich wurde das Gedränge so groß, dass Arlo kaum noch seine Wanderschuhe sehen konnte.

      »Hütet euch vor Taschendieben«, warnte Jaycee.

      Arlo spürte, dass etwas an seinem Rucksack zerrte. Er wirbelte herum und sah eine weißhaarige Frau mit braunen Zähnen, die in neun Richtungen zeigten. Sie stürzte sich auf ihn und schnupperte an seiner Jacke.

      »Du bist in der Nähe eines Geists gewesen!«, zischte sie. »Einem mit Pelz. Ich kann ihn an dir riechen.« Ihre Augen hatten unterschiedliche Farben, Grün und Braun, so wie seine. Sie ist auch ein Tooble, wurde Arlo klar.

      Jaycee drängte sich zwischen sie. »Hau ab! Weg!«

      Das alte Weib wich nicht zurück. »An dir ist er auch. Immer noch warm! Muss ganz nah sein. Wo ist er?«

      Arlo sah schnell die Straße entlang zur Anhöhe hinauf, wo sie Fox zurückgelassen hatten. Die alte Frau folgte seinem Blick. Sie lächelte und pfiff dann durch die Zähne. Plötzlich waren zwei jüngere Frauen in schmuddeligen Kapuzenpullis bei ihr. Ihre Töchter?, fragte sich Arlo.

      »Holt eure Käfige, Mädchen. Es gibt Beute.« Damit bahnten sich die drei Frauen ihren Weg durch die Menge aus der Stadt.

      »Sollen wir Fox warnen?«, fragte Wu.

      »Er hat gesagt, dass er nicht bleiben würde«, antwortete Arlo. »Er kommt klar.« Arlo sagte das mit einer Zuversicht, die er eigentlich nicht hatte. »Kommt schon. Wir müssen die Eule und die Schlange finden.«

      »Ich kann euch hinbringen«, erklang es hinter ihnen mit schwacher Stimme. »Die Eule und die Schlange. Ich bringe euch hin.«

      Die Stimme gehörte zu einem jungen Mädchen, das so winzig war, dass Arlo es zuerst gar nicht bemerkt hatte. Sie konnte nicht älter als fünf sein. Sie trug einen Schlafanzug mit Zeichentrickautos, rosafarbene Regenstiefel und eine Strickmütze der Cleveland Browns, die den größten Teil ihres glatten schwarzen Haares bedeckte.

      »Du weißt, wo sie sind?«, fragte Arlo. »Die Eule und die Schlange?«

      Bevor das Mädchen antworten konnte, fragte Wu: »Ist es eine Chimäre? Halb Eule und halb Schlange?«

      Das Mädchen wirkte auf einmal verwirrt.

      »Hör zu«, sagte Jaycee. »Du kriegst von uns einen Schokoriegel, wenn du uns zu ihnen bringst.« Die Augen des Mädchens leuchteten.

      »Es ist mehr ein Protein- als ein Schokoriegel«, sagte Wu.

      Jaycee warf ihm einen wütenden Blick zu und er fuhr eilig fort: »Aber sie sind gut. Sie schmecken echt wie Schokoriegel.«

      Arlo richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf das Mädchen. »Kannst du uns zu der Eule und der Schlange bringen?«

      Das Mädchen griff nach Arlos Hand und zog ihn voran. Sie war flink und schlängelte sich mühelos durch die Menge. Arlo sah sich mehrere Male um, um sicherzugehen, dass Jaycee und Wu auch Schritt hielten.

      Sie verließen die Hauptstraße und tauchten in eine schmale Gasse ein. Es roch nach Kochfett und der Rauch brannte in seinen Augen. Plötzlich hielt das Mädchen vor einer schief in den Angeln hängenden Tür. Sie waren keine fünfzig Meter weit gegangen.

      »Hier«, sagte sie und deutete auf die Tür.

      »Hier wohnen die Eule und die Schlange?«, fragte Arlo. »Dadrin finden wir sie?«

      Das konnte nicht stimmen. Selbst für Fallbach-Verhältnisse sah das Gebäude heruntergekommen aus. Ein stark tätowierter Mann mit Erbrochenem im Bart lehnte bewusstlos an der Wand, neben ihm lagen menschliche Zähne im Dreck. Hinter der Tür hörte Arlo Musik und Männer randalieren und streiten.

      Er hatte erwartet, die Eule und die Schlange in einer Art Kultstätte oder Tempel oder einer geheimnisvollen Bibliothek zu finden, aber doch nicht in einer Hinterwäldlerkneipe. Als Wu und Jaycee aufgeschlossen hatten, teilte Arlo ihnen die schlechte Nachricht mit: »Ich fürchte, sie weiß nicht, was sie tut.«

      »Das weiß sie sehr gut«, sagte Jaycee. Sie deutete auf ein handgemaltes Schild über der Tür:

      DIE EULE UND DIE SCHLANGE

      Keine Tiere oder Geister, dachte Arlo. Es ist der Name eines Orts.

      Jaycee händigte den Energieriegel aus. Arlo erwartete, dass das Mädchen gleich die Verpackung aufreißen und ihn runterschlingen würde, doch stattdessen steckte sie ihn unter ihre Mütze. Dann schob sie die Tür auf und trat ein.

      Arlo, Jaycee und Wu beugten sich ein Stück vor, um einen kurzen Blick zu erhaschen, bevor die Tür wieder zufiel. Es war definitiv eine Kneipe, komplett mit Zapfhähnen, Neonreklame und Sägemehl auf dem Boden. Eine Jukebox spielte die Art Country Rock, die Mitch, der Mechaniker, mochte.

      »Warum sollte der Atlas in einer Kneipe sein?«, fragte Wu.

      »Lasst es uns rausfinden«, sagte Jaycee und schob sich an ihnen vorbei. Arlo und Wu tauschten einen Blick und folgten ihr.

      Obwohl es noch nicht einmal Mittagszeit war, hatten die Gäste der Eule und der Schlange offenbar schon seit Stunden getrunken und gespielt. Statt Geld oder Pokerchips schien ihr Einsatz etwas Wertvolleres zu sein: Geister. Arlo erkannte die laternengroßen Geräte wieder, die er die Magus hatte verwenden sehen, als sie über Sommerland hereingebrochen waren.

      »Das sind Fallensteller«, flüsterte er Wu zu. »Diese Dinger da sind Käfige.«

      Ein Mann zeigte seine Karten, offensichtlich hatte er mit seinem Blatt gewonnen. Als er seinen Gewinn einsammelte, stieß sein Gegenüber plötzlich den Tisch um. Arlo, Wu und Jaycee drückten sich gegen die Wand. Es kam zu einem handfesten Kampf, in den nicht nur die beiden Männer verwickelt waren, sondern die Hälfte der Kundschaft.

      »Ihr da!«, brüllte eine weibliche Stimme durch den Laden. Arlo sah hinüber und bemerkte eine asiatische Frau in den Vierzigern, die eine Lederhose und eine militärgrüne Leinenjacke trug. Sie stand bei dem kleinen Mädchen und hielt den Energieriegel in der Hand. »Warum gebt ihr meinem Kind Süßigkeiten?«

      Ohne die Kämpfenden groß zu beachten, kam sie auf sie zu. Als ein stämmiger Mann ihr vor die Füße stolperte, wirbelte sie ihn geschickt herum und schickte ihn zurück ins Handgemenge. Dann wandte sie sich wieder dem Trio zu.

      »Eigentlich ist das ein Energieriegel«, sagte Wu.

      Die Frau hatte sich unmittelbar vor ihnen aufgebaut. In ihren hochhackigen Stiefeln war sie kaum größer als Arlo, dafür unglaublich einschüchternd. »Meine Tochter hat eine Sojaallergie.«

      »Habe ich auch«, sagte Arlo. »Da ist kein Soja drin. Sie können die Inhaltsstoffe überprüfen.«

      Die