Frank Rehfeld

Der Tempel der Drachen


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Ihre Gesichter zeigten keine Reaktion, doch in ihren Augen las Aylon eine fast einheitliche Palette von Gefühlen: Zweifel und Unsicherheit, Abneigung und Feindseligkeit und - was am Schlimmsten war - bei einigen sogar Furcht. Auch nach all den Jahren, in denen ihm - und auch ihnen - genug Zeit geblieben war, sich aneinander zu gewöhnen, war es ihm nicht gelungen, sich mit seiner Andersartigkeit abzufinden. Immer noch tat es ihm weh, überall auf Ablehnung zu stoßen; nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen, sondern sogar bei vielen der erwachsenen Magier.

      Während er zu Maziroc aufschloss, tastete Aylon mit seinem Geist nach einer der unsichtbaren Sperren und beseitigte sie; gleichzeitig trieb er den Spunk in diese Richtung, sodass das Tier durch einen Mauerriss entkam. Die kleine Rache bereitete ihm eine grimmige Befriedigung. Die Jugendlichen schauten ihm verärgert nach, einige mit unverhohlener Wut, doch keiner wagte es, etwas zu sagen.

      "Sie fürchten mich", wandte sich Aylon bitter an seinen Lehrmeister. "Wenn sie könnten, würden sie mich aus Cavillon verbannen."

      "Aber das können sie nicht, denn du gehörst genauso hierher, wie jeder von ihnen", sagte Maziroc mit Nachdruck. "Deine Begabung ist eben fremd für sie. Solange sie dich nicht mental wahrnehmen können, bist du für sie ein Niemand, und das ist ihnen unheimlich. Dir würde es umgekehrt nicht anders ergehen, wenn du ehrlich bist."

      "Vielleicht." Aylon zuckte mit den Schultern. Vermutlich hatte Maziroc recht, aber er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Jeder Magier vermochte einen anderen anhand seiner Ausstrahlung zu erkennen, einer geistigen Aura, die sich gleich den Wellen ausbreitete, wenn man einen Stein in einen Teich warf. Selbst normale Menschen besaßen sie, wenngleich etwas schwächer. Auch Aylon hatte sich daran gewöhnt, sie wie ein leises Rauschen in seinen Gedanken wahrzunehmen, während er selbst in dieser Hinsicht von Geburt an völlig stumm war. Als Kind hatte es ihm Spaß gemacht, dies auszunutzen, um sich an andere heranzuschleichen und sie zu erschrecken, aber schon bald hatte er begonnen, dieses Phänomen nicht als besondere Begabung zu betrachten, wie Maziroc es tat, sondern als einen Fluch, dem er nicht entrinnen konnte.

      Auch äußerlich unterschied er sich von den anderen. Da er es leid war, sich bei ihnen anzubiedern, trug er sein braunes Haar aus Trotz länger als allgemein üblich. Es fiel ihm bis über den Nacken und bot ihnen weiteren Anlass zum Spotts, zumal auch sein Gesicht von fast mädchenhafter Zartheit und sein Körper schlanker und weniger muskulös als der vieler anderer war. Seine oft melancholische Stimmung verlieh seinen Augen- und Mundwinkeln einen sehnsuchtsvollen, fast traurigen Zug. Und seine Augen selbst - sie waren die meiste Zeit so grün wie die aller Magier, aber wenn er nicht aufpasste, verloren sie ihre Farbe und wurden braun, als wäre er ein normaler Mensch.

      "Wohin gehen wir?", fragte er, doch er erhielt keine Antwort. Ungeduldig folgte er Maziroc durch die unzähligen Gassen und Straßen Cavillons, über Höfe, Plätze und Parks. Das aus weißem Marmor errichtete Bauwerk schien mehr eine Stadt, als ein Kloster zu sein, undurchschaubar selbst für den, der hier aufgewachsen war; ein gewaltiges, kompliziertes Labyrinth, das ganz zu erforschen ein Menschenleben nicht ausreichen würde. In Wahrheit war es von beidem etwas; und mehr. Cavillon war der Stammsitz des Ordens, eine Oase des Friedens für jeden Ishar, gleichzeitig ein Zentrum und die Schule für magische Forschungen.

      Für manche auch eine Schule für Einsamkeit, ergänzte er in Gedanken. Immerhin aber war seine Isolation auch Anlass für ihn gewesen, sich umso leidenschaftlicher mit seinem Studium zu befassen. Falls man ihn noch in diesem Jahr der Magierweihe für würdig erachten sollte, wäre er mit seinen erst achtzehn Jahren der vermutlich jüngste Ishar, den es in der Geschichte des Ordens je gegeben hatte.

      Je weiter sie gingen, desto mehr verloren die Gebäude von ihrem Glanz, der Marmor wurde stumpf und nahm eine schmutzig graue Farbe an. Die nun immer rascher hereinbrechende Dunkelheit verstärkte diesen Eindruck noch. Die Sonne war bereits vollends hinter dem Horizont versunken, um ihrem nächtlichen Bruder zu weichen, der langsam hinter den Bergen hervorkroch.

      Aylon war noch nie hier gewesen, aber er hatte Andeutungen über diesen Teil Cavillons gehört. "Das ... ist die verbotene Zone", murmelte er.

      "Nein." Der Magier schüttelte den Kopf. "Hier noch nicht. Aber wir werden sie gleich erreichen."

      Überrascht blieb Aylon stehen. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was die Worte wirklich bedeuteten. "Wir werden hineingehen?" Seine Augen glänzten vor Aufregung. Es gab wohl kaum jemanden in Cavillon, der nicht schon wilde Spekulationen angestellt hatte, was es mit der verbotenen Zone auf sich hatte. Die Aussicht, dass gerade er möglicherweise mehr über dieses streng gehütete Mysterium erfahren würde, verschlug ihm fast den Atem, gleichzeitig jedoch erschreckte ihn die Beiläufigkeit, mit der Maziroc über die Verletzung dieses Tabus sprach. "Niemand darf sie betreten", erinnerte er ohne sonderliche Überzeugung.

      Maziroc lächelte; flüchtig und ohne eine Spur von Humor. "Ich schon, denn ich war einer derjenigen, die dieses Verbot einst erließen. Ich kenne die verbotene Zone und ihre Gefahren, und ich weiß, wie man sich vor ihnen schützt." Sein Blick wurde zwingend. "Aber ich warne dich. Dieser Besuch wird für dich einmalig bleiben, und du wirst Dinge erfahren, die für immer dein Geheimnis bleiben müssen. Hast du das verstanden?"

      Aylon hatte das Gefühl zu schrumpfen und von dem scharfen Blick des Magiers durchbohrt zu werden. Er nickte hastig. Selbst wenn er sich im Recht wähnte, war es ihm schon immer schwergefallen, seinem Lehrmeister zu widersprechen. Allein durch seine starke Persönlichkeit und die bestimmende Art seines Auftretens überwältigte Maziroc jeden, mit dem er sprach; seine Leibesfülle und die kraftvolle Stimme unterstrichen seine unterschwellige Autorität.

      Nach einigen Sekunden unbehaglichen Schweigens räusperte sich Aylon. "Was ist eigentlich so gefährlich an der verbotenen Zone, wenn sie doch zu Cavillon gehört? Und was werden wir dort machen?"

      "Wir werden nicht lange dort bleiben", antwortete Maziroc ausweichend. "Doch ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, und dabei brauche ich deine Hilfe. Wenn wir erst einmal dort sind, wirst du auch begreifen, warum das Betreten der Zone verboten wurde."

      Aylon fragte sich, um was für eine Aufgabe es sich handeln mochte, dass sein Lehrmeister ausgerechnet seine Hilfe und nicht die eines anderen Magiers dafür benötigte, doch er wusste, dass er vorläufig keine Antwort darauf bekommen würde. Wenn Maziroc es ihm sagen wollte, dann hätte er es von sich aus getan, und wenn nicht, dann hatte es auch keinen Sinn, ihn zu drängen.

      Sie gelangten an eine mehr als doppelt mannshohe Mauer und gingen ein Stück daran entlang, bis der Magier vor einer kleinen, aber äußerst stabil aussehenden Pforte stehen blieb. Er zog eine silberne Rune aus der Tasche und schob sie anstelle eines Schlüssels in das Schloss. Mit einem leisen Klicken sprang die Pforte auf. "Bleib dicht hinter mir, dann kann dir nichts passieren. Die Rune schützt uns. Und wundere dich nicht, wenn du ein seltsames Kribbeln verspürst. Wir werden einen magischen Schirm durchqueren."

      Aylon bückte sich. Hinter der Pforte war nichts als Schwärze zu erkennen. Darum bemüht, sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, folgte er dem Magier durch die Öffnung. Das Kribbeln, vor dem ihn Maziroc gewarnt hatte, war kaum zu spüren, und vielleicht hätte er es nicht einmal bemerkt, wenn er nicht bewusst darauf geachtet hätte, dafür erschreckte ihn etwas anderes umso mehr. Für einen Moment glaubte er, den Boden unter den Füßen zu verlieren und von der Schwärze aufgesogen zu werden. Ihm wurde schwindelig, aber noch bevor er das Gefühl richtig wahrnehmen konnte, hatte er die Pforte bereits durchquert.

      Verwundert schaute er sich um. Was er sah, war völlig anders als alles, was er erwartet hatte. Die Mauer umfasste ein vom Mondlicht beschienenes Areal, das zu groß war, um es mit Blicken völlig zu erfassen. Darin erhob sich wie ein finsterer, gedrungener Klotz ein gleichfalls riesiges Bauwerk. Einst mochte es eine beeindruckende Festung gewesen sein, aber das musste bereits eine Ewigkeit zurückliegen. Nun war es nur noch eine Ruine; eine gewaltige Ruine zwar, aber dennoch kaum mehr als ein Schutthaufen. Zumindest sah es von außen so aus. Von ungläubigem Staunen erfüllt, ließ Aylon seinen Blick über die zerklüftete Fassade schweifen. Regen und Wind hatten daran genagt und deutliche Spuren hinterlassen. Die Zeit hatte die zyklopischen Außenwälle zerfressen; sie waren von Rissen durchfurcht und vielfach geborsten, an mehreren Stellen sogar ganz in