A. F. Morland

Sammelband 4 Krimis: Mordgeflüster in Venedig und drei andere Krimis


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übel für die paar Tage entbehren müssen“, bemerkte die Oberin. „Gehen Sie! Und ... alles Gute, Schwester Lydia. Denken Sie an meine Worte, wenn Sie Rashid Achbar betreuen.“

      Völlig verwirrt verließ die junge Frau die chirurgische Station. Wieso hatte sich der Scheich ausgerechnet für sie entschieden? Wodurch war er auf sie aufmerksam geworden? Womit hatte sie ihn so sehr beeindruckt, dass er sie allen anderen Krankenschwestern vorzog?

      Sie begab sich zum Fahrstuhl und fuhr zwei Etagen hinauf. Bevor sie an die Tür klopfte, betrachtete sie ihr Spiegelbild kurz im Fenster, denn sie wollte tipptopp aussehen. Sie zupfte ein wenig an ihrer Schwesterntracht herum, richtete sich das Häubchen, holte tief Luft und klopfte schließlich, ein wenig aufgeregt.

      Jemand forderte sie in deutscher Sprache auf, einzutreten. Sie nahm an, es wäre einer der beiden Leibwächter, aber das stellte sich als Irrtum heraus. In dem Raum, den sie betrat, befand sich Harun Achbar, der Sohn des Scheichs.

      Lydia war ihm zum ersten Mal so nahe. Sie hatte nicht gewusst, dass er so großartig aussah. Sein makelloses Erscheinungsbild machte sie verlegen. Kein Wort brachte sie heraus, und sie fürchtete, dass sie auch rot geworden war.

      Mein Gott, was wird er von mir denken?, durchzuckte es Lydia. Ich benehme mich wie ein junges, dummes Gänschen. Und dabei soll ich das gesamte Pflegepersonal der Wiesen-Klinik repräsentieren. O Gott, ich glaube, ich bin dieser großen Aufgabe nicht gewachsen.

      Harun Achbar trug einen cremefarbenen Sommeranzug, mit dem sein dunkler Teint hervorragend kontrastierte.

      Sie wusste nicht, was sie mit Ihren Händen machen sollte, und Harun Achbars Lächeln, freundlich und warm, machte sie noch mehr verlegen.

      „Ich ... Ich bin Schwester Lydia“, stammelte sie.

      Himmel, nimm dich doch zusammen!, sagte sie sich wütend. Benimm dich wie ein vernünftiger Mensch! Sei nicht so verkrampft, es gibt dafür doch überhaupt keinen Grund. Du hast es mit dem gut aussehenden Sohn des Scheichs zu tun ... Na und? Er ist auch nur ein Mensch. Wenn auch ein sehr hübscher ... Dieses Feuer in seinen schwarzen Augen. Der interessante Schwung seiner Augenbrauen. Die Form seiner Lippen ... Er macht mich ganz schwach ...

      Harun Achbar nickte.

      „Ich weiß, wer Sie sind“, sagte er. Sein Deutsch war ein wenig kehlig, aber sehr gut zu verstehen.

      „Sie ... wissen ...?“

      „Ich habe mich erkundigt.“

      „Sie haben ... Warum?“

      „Ich wollte Sie für meinen Vater haben. Gleich als wir in die Klinik kamen, fielen Sie mir auf.“

      „Dann ... hat nicht Ihr Vater verlangt ...“

      Harun Achbar schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Nein, das war ich. Ich habe Sie angefordert. Sind Sie enttäuscht?“

      „Nein. O nein, ganz im Gegenteil ...“ Bin ich übergeschnappt? Was rede ich denn da?, dachte Lydia erschrocken.

      „Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich handelte nicht völlig selbstlos, Schwester Lydia“, gestand der Sohn des Scheichs. „Es ist etwas an Ihnen, das mich vom ersten Augenblick an beeindruckte. Etwas ... Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll ... Etwas Engelhaftes. Wäre ich krank, wollte ich nur von Ihnen gepflegt werden. Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Aufrichtigkeit nicht übel.“

      Vorsicht, Lydia!, dachte die junge Krankenschwester. Er sieht unverschämt gut aus und weiß das auch. Wie viele Mädchenherzen mag er schon gebrochen haben? Er ist reich, und er denkt anscheinend, alles haben zu können, was ihm gefällt. Tut mir leid, Harun Achbar, mich bekommst du trotz deines immensen Reichtums nicht. Ich bin nicht erpicht darauf, mit gebrochenem Herzen zurückzubleiben, wenn du in deine Heimat zurückkehrst. Ich werde freundlich und zuvorkommend zu dir und deinem Vater sein. Aber es wird eine Grenze zwischen uns geben, eine eiserne Barriere, die du nicht überwinden kannst. Zieh daraus deine Lehre, Harun Achbar! Es gibt im Leben doch auch für dich einiges, was du nicht kriegen kannst.

      „Ich habe Dr. Berends gebeten, Sie für die Betreuung meines Vaters abzustellen, damit ich Sie oft sehen kann“, fuhr der Sohn des Scheichs mit seinem Geständnis fort.

      Du vertrödelst wohl nie Zeit!, dachte Lydia Fersten mit leichter Empörung. Steuerst immer gleich direkt auf dein Ziel zu!

      „Ich bin erst seit kurzem in der Wiesen-Klinik“, sagte sie. „Es gibt bestimmt Schwestern, die Ihrem Vater dienlicher sein können.“

      „Wir werden mit Ihren Diensten zufrieden sein“, sagte Harun Achbar überzeugt. „Oder haben Sie etwas gegen uns? Mögen Sie keine Ausländer?“

      „Himmel, das ist doch Unsinn!“, platzte es aus Lydia heraus. „Ich habe mich für diesen Beruf entschieden, weil ich es schön finde, Menschen zu helfen. Hautfarbe und Nationalität spielen dabei keine Rolle. Sie können nichts dafür, dass Sie in Yanba geboren wurden. Ebensowenig wie ich dafür kann, dass ich Deutsche bin. Ausländer ... Es ist ein Kunstwort. Heben Sie alle Grenzen auf, und es gibt keine Ausländer mehr - nur noch Menschen.“

      Harun Achbar lächelte. „Ihre Ansicht gefällt mir, Schwester Lydia. Ihr leidenschaftliches Plädoyer lässt mich erkennen, dass ich die richtige Wahl getroffen habe.“

      Sie musterte ihn eingehend. Meinte er ehrlich, was er sagte? Tat sie ihm unrecht, wenn sie ihm unterstellte, er wäre nur auf ein flüchtiges Abenteuer aus?

      Er fragte sie, ob er sie nun zu seinem Vater bringen dürfe.

      Er fragte!

      Er war freundlich und nett. Er versuchte es ihr so leicht wie möglich zu machen, und es schien ihm sehr viel daran zu liegen, ihr sympathisch zu sein. Er wollte bei ihr „ankommen“, sie für sich gewinnen, das spürte sie ganz deutlich. Und es schienen keine unlauteren Absichten dahinterzustecken.

      Diese neue Erkenntnis machte Lydia noch unsicherer.

      Sollte sich zwischen ihnen beiden etwas angebahnt haben?

      Das war doch unsinnig. Welten trennten sie, die Deutsche, die Krankenschwester, und ihn, den Araber, den Sohn des Scheichs.

      Aber waren sie nicht in erster Linie Menschen?

      Das Schicksal hatte ein junges Mädchen und einen jungen Mann zusammengeführt, und sie fanden offensichtlich aneinander Gefallen. Was konnte daran falsch sein? Was zählte sonst noch? Was sprach gegen eine Freundschaft? Abstammung? Herkunft? Hatte Lydia nicht vorhin behauptet, das würde sie überhaupt nicht interessieren?

      Noch nie hatte in ihrem Kopf ein so heilloses Durcheinander geherrscht. Harun Achbar war für diese maßlose Verwirrung verantwortlich, aber Lydia konnte ihm deswegen nicht böse sein.

      Die Liebe ist eine Pflanze, die überall gedeiht. Sogar im Wüstensand, dachte Lydia, und sie erschrak. Wie konnte sie so vermessen sein, jetzt schon an Liebe zu denken. Freundschaft vielleicht. Aber das war im Moment schon das höchste der Gefühle. Liebe!, sagte sich die junge Krankenschwester. Du spinnst wohl.

      Harun Achbar machte eine einladende Handbewegung. Lydia folgte ihm wie in Trance.

      Er hat mich hypnotisiert mit diesen wunderschönen dunklen Augen, dachte sie. Ich hätte seinem Blick ausweichen sollen. Aber warum eigentlich? Das Gefühl, das ich seither habe, ist großartig.

      Der Sohn des Scheichs öffnete die Tür, die in das angrenzende Zimmer führte, und sagte: „Vater, das ist Schwester Lydia. Sie wird sich während deines Aufenthalts in der Wiesen-Klinik deiner annehmen.“

      Lydia sah die beiden Leibwächter. Sie standen beim Fenster. Der Scheich ging auf sie zu, streckte ihr beide Hände entgegen, und sie spürte, dass sie willkommen war. Sie würde mit Vater und Sohn wunderbar auskommen, das wusste sie von diesem Augenblick an.