ich darauf, aus Angst vor der Erinnerung, aus Angst auch, der Sache nicht gewachsen zu sein, als Trampeltier dazustehen, mich lächerlich zu machen.
Elliot hatte ich seit Stunden nicht gesehen, er saß sicher irgendwo mit seinen Kumpanen, sternhagelvoll. Hoffentlich geriet er nicht in eine Rauferei. Schlägereien gehörten zu jedem Powwow. Dass ein Indianer den anderen umbrachte, kam allerdings selten vor. Die Weißen hatten nur wenige von uns übrig gelassen und die Überlebenden gingen schonend miteinander um. Keiner wollte einen toten Indianer auf dem Gewissen haben.
Noch war alles friedlich. Die Mittagspause zog sich bis spät in den Nachmittag hinein. Frauen und Männer nahmen sich viel Zeit, um sich zu schmücken und ihre Gewänder anzulegen. Alte Leute saßen auf Klappstühlen und plauderten, Kinder spielten, die Halbwüchsigen lungerten bei den Verkaufsbuden und Kunsthandwerkerständen herum. Ich hielt die Hände auf den Rücken, damit keiner auf die Idee kam, dass ich etwas klauen wollte. Auf einmal hörte ich hinter mir ein Rascheln von Perlen, ein leichtes Klingeln von Messingglöckchen.
»Hallo, Shana!«, sagte Alec.
Alec Black Cloud war achtzehn Jahre alt. Alle Mädchen waren scharf auf ihn, ich auch, obwohl er mich bisher wie Luft behandelt hatte. Nur manchmal, im Vorbeigehen, hatte er mir zugelächelt oder mich mit Blicken gestreift. Ich hatte nie gewusst, was ich davon halten sollte. Im Sommer hatte Alec die Highschool mit Erfolg abgeschlossen, ohne eine Klasse wiederholt zu haben, und an der staatlichen Universität in Seattle einen Studienplatz bekommen. Als Belohnung durfte er zum ersten Mal die Tänze anführen. Alec sah wirklich gut aus. Er trug ein Kostüm mit gefärbten Stachelschweinborsten bestickt, einen Federbusch auf dem Kopf und ein gelber Streifen zog sich von seinem Haaransatz über die Nase bis zum Kinn hinunter. Alec hatte ein Piercing, einen kleinen silbernen Ring in der linken Augenbraue, was ihm unverschämt gut stand.
»Warum tanzt du nicht?«, fragte er.
»Ich habe kein Kleid.«
»Und das von deiner Mutter?«
Ich schüttelte wortlos den Kopf.
Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Warum? Es ist doch ein schönes Kleid.«
»Ja«, sagte ich.
Je mehr ich über das Gewand nachdachte, desto mehr Einzelheiten kamen mir in den Sinn: das Grün und Dunkelrot der Perlen, die Glöckchen an den Fransen. Ich war klein für mein Alter, das Kleid würde mir bis an die Knöchel fallen.
»Sehen wir uns nachher?«, fragte Alec.
Ich spielte mit dem Zipfel meines T-Shirts, kam mir unscheinbar und linkisch vor. Warum gerade ich?, überlegte ich. Was ist an mir Besonderes? Ich hatte ein komisches Gefühl in der Magengegend.
»Wo?«, wollte ich wissen.
Er zeigte auf sein Motorrad, das auf dem Parkplatz zwischen den Pick-ups stand. Alec hatte vor drei Monaten seinen Führerschein gemacht. Er jobbte neben der Schule und zahlte jeden Monat die Raten ab. »Gut«, sagte ich.
Wir standen nebeneinander und wussten uns plötzlich nichts mehr zu sagen. Ein paar Frauen und Mädchen kamen aus den Zelten. Es war merkwürdig, dass Frauen, die sonst in Jeans herumliefen, in traditioneller Kleidung plötzlich ganz anders auftraten. Ihre Haltung, ihre Bewegungen hatten sich verändert. Sie sahen auf einmal wie Märchenprinzessinnen aus, sogar meine Mitschülerinnen, die entweder zu dick waren oder eine Zahnspange trugen. Neben den vertrauten Gesichtern entdeckte ich plötzlich ein unbekanntes.
Die Frau war zierlich und schlank, ihr blauschwarzes Haar fiel wie ein Schal über den Rücken. Zwei Adlerfedern waren an ihrem Hinterkopf befestigt und zeigten über ihre rechte Schulter nach unten. Auf ihrem Lederkleid war eine gelb-schwarze Perlenstickerei angebracht, die einen Wolf zeigte. Dieser Wolf war kreisförmig dargestellt, so als ob er sich in den eigenen Schwanz biss. Es war ein merkwürdiges Symbol, ich sah es zum ersten Mal. Aber bei intertribalen Volksfesten traf man Leute von überall her. Manche machten regelrechte Powwow-Runden, um Auszeichnungen zu sammeln. Denn es gab viele Wettkämpfe unter den Tänzern, die mit Preisen belohnt wurden. Alec deutete auf die Frau.
»Da ist sie.«
»Wer?«
»Lela Woodland«, sagte Alec. »Deine neue Lehrerin.
Sie stammt von hier, wusstest du das?«
»Nein.«
»Das Haus mit blauen Läden, das kennst du doch?«
»Unten am Fluss?«
»Genau. Das gehörte ihren Großeltern.«
Man sah es von einer Anhöhe aus durch die Bäume schimmern. Ein großes Backsteinhaus, gut erhalten, mit einer Veranda und tief gezogenem Dach, zum Schutz gegen die Stürme.
»Da wohnte lange Zeit ein Alter …«
»Das war Frank Goddy, der Verwalter. Der ist gestorben.«
Jetzt, da Alec davon sprach, fiel es mir wieder ein.
»Früher wohnten da Leute und dann lange Zeit nicht mehr.«
»Ja, die Großeltern. Erinnerst du dich?«
»Kaum noch.«
»Sie waren viel auf Reisen, hielten sich für etwas Besseres, glaube ich. Inzwischen liegen beide auf dem Friedhof. Lelas Eltern waren richtige ›Urbans‹. Sie kamen nur in den Ferien nach Beaver Creek. Jetzt lebt die Mutter nicht mehr und der Vater wohnt in Clinton.«
»Warum nicht hier?«
»Er soll krank sein. Das Haus ist nicht das Richtige für ihn. Zu abgelegen.«
Langsam fielen mir wieder die alten Geschichten ein.
»War die Großmutter nicht Künstlerin?«
»Doch, Malerin. Eine berühmte sogar. Sie lebte in New York und ein paar Jahre auch in Europa.«
»Du weißt eine ganze Menge«, sagte ich zu Alec.
Er kniff ein Auge zu.
»Ich nicht, aber meine Mutter!«
»Ach so!«
Ich brach in Lachen aus. Fiona, Alecs Mutter, arbeitete beim Telefonamt und wusste immer alles über jeden. Melanie hatte mal behauptet, halb lachend, halb entrüstet, dass Fiona sämtliche auswärtige Gespräche mit anhörte.
»Seit wann ist Lela wieder hier?«, fragte ich.
»Seit zwei Wochen oder so. Jetzt tut es mir Leid, dass ich hier nicht mehr zur Schule muss. Eine sexy Lehrerin, die hat mir immer gefehlt. Man hat sie doch täglich vor der Nase.«
»Sie sieht wirklich gut aus«, sagte ich.
»Ach, nur von weitem.« Alec zog die Schultern hoch.
»Sie ist mindestens vierzig.«
Dann begann das Tanzfest. Zuerst bildeten alle Gruppen einen Umzug, der sich zum Klang der Trommeln zu einem großen Kreis formte. Wenn Musik ertönte – egal, welche –, bekam ich immer eine Gänsehaut. Irgendwie glaubte ich, dass die Musik das Wichtigste war, was es gab. Ich spürte die Klänge buchstäblich bis ins Knochenmark. Aber es ging mir nicht ums Tanzen, um die rhythmische Bewegung zur Musik. Tanzen würde ich auch, aber nur zum Vergnügen. Nein, Musik war etwas anderes für mich, ich konnte es nicht beschreiben. Oder vielleicht doch: Es war, als ob ich eins mit der Musik wurde. Und das Merkwürdige: Ich spürte genau, wenn der Rhythmus stimmte und wenn nicht. Manchmal kam es vor, dass Sänger eine falsche Note sangen oder die Trommler aus dem Takt gerieten. Dann fühlte ich einen feinen Schmerz, als ob mich innerlich eine Nadel stach. Musik muss genau stimmen, dachte ich, das spürt man doch, oder? Nein, die meisten spürten es nicht.
Und jetzt ertönte die Trommel und die erste Frauengruppe tanzte. Da – schon wieder die Gänsehaut! Die zwei Trommler waren Brüder