zu. Die Scheiben der Geländewagen spiegelten die Sonne wieder, es war entsetzlich heiß. Ich hörte eine Wagentür zuschlagen und wandte den Kopf. Eine Frau kam auf mich zu. An der eigentümlichen Wolfstickerei auf ihrem Kleid erkannte ich die neue Lehrerin. Alec hatte gesagt, dass sie nur von weitem gut aussah, und das stimmte irgendwie. Sie hatte feine Falten im Gesicht und schon einige weiße Fäden im Haar. Doch sie hatte einen ganz besonderen Gang, wiegte sich leicht in den Hüften und hielt sich so gerade, dass sie fast ein hohles Kreuz zu haben schien. Ich lehnte mich gegen einen Wagen, um sie vorbeizulassen. Sie lächelte mir dankend zu. Ihr Blick verweilte kurz auf mir; ihre Augen waren nicht braun, nicht schwarz, sondern vollkommen golden. Nie hatte ich solche Augen gesehen. Fasziniert und unhöflich zugleich sah ich ihr ins Gesicht. Ich hatte das Gefühl, dass dieser ruhige, starre Blick sich messerscharf in mich hineinbohrte. Ich presste mich enger an das glühende Blech, sie ging weiter, und das war alles. Und später, als einige Jugendliche begannen mit Abfallsäcke herumzugehen und das Gelände zu säubern und die Teilnehmer zu ihren Pick-ups gingen, sah ich Alec und Donatella auf dem Motorrad wegfahren. Beide hatten sich umgezogen. Donatella trug ein ärmelloses Top, knallenge Jeans und Pumps mit hohen Absätzen. Wahrhaft ideal für einen Waldspaziergang im Mondschein, dachte ich. Hoffentlich verrenkt sie sich die Knöchel.
Später in der Nacht wanderte ich die Straße entlang, wo die letzten Autos vorbeifuhren. Am Waldrand fand ich einen ruhigen Platz, warf mich ins warme Gras und sah die Sterne glitzern. Und auf einmal hörte ich es wieder, dieses lang gezogene, unglaublich traurige Heulen. Es klang wie das Echo meiner eigenen Qual, als ob das unbekannte Tier meine Verzweiflung teilte. Ich entsann mich an die Geistergeschichten meiner Kindheit. Mir wurde ganz schwindlig und einen Moment hoffte ich schon, ich sei tot. Ich schnappte keuchend nach Luft, antwortete dem fernen Geheul mit einem lauten, krampfhaften Schrei, der in heftiges Schluchzen überging. Ich weinte, den ganzen Körper vor Schmerz geschüttelt. Und als ich alle Tränen geweint hatte und mein Zittern sich beruhigte, merkte ich, dass das Tier – was immer es gewesen sein mochte – schwieg. Das Schreien hatte befreiend gewirkt, ich atmete ruhiger. Mit der Entspannung kam ein Gefühl des Absinkens. Ich schlief eine Weile, doch nicht lange. Ich erwachte in völliger Dunkelheit, schlotternd vor Kälte. Steif richtete ich mich hoch, setzte ungeschickt einen Fuß vor den anderen und begann in Richtung Dorf zurückzulaufen.
Der Sommer ging vorbei, irgendwie. Mit meinem Vater sprach ich nicht mehr. Man kann mit einem Menschen unter einem Dach leben, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Man muss nur aus dem Zimmer gehen, wenn er kommt, morgens nicht zu gleicher Stunde aufstehen, nicht zur gleichen Zeit essen. Elliot spülte sein schmutziges Geschirr, kratzte die Töpfe aus, kümmerte sich um seine Wäsche. Er wusste, dass ich für ihn keinen Finger gerührt hätte. Elliot saß vor der Glotze, ich verdrückte mich in mein Zimmer und las. Die Bücher holte ich mir aus der Bibliothek. Ich faulenzte,schlief oder verlor mich in Tagträumen. Alec war schon in Seattle. Ob er sich noch mit Donatella traf, wusste ich nicht. Es war mir auch egal. Ich jedenfalls würde nie den Mut aufbringen, ihm jemals wieder vor die Augen zu treten. Ich schämte mich viel zu sehr. Ich hatte ohnehin den Eindruck, dass alle Leute mich komisch anstarrten. Es konnte ja sein, dass Elliot die Geschichte in der Kneipe erzählt hatte und jeder im Dorf Bescheid wusste. Ich wagte mich kaum noch auf die Straße. Entsetzlich.
September. Schulanfang. Ein paar Lehrer teilten sich die oberen Klassen. Lela Woodland würde bei uns Sozialkunde, Literatur und Musik unterrichten. Ich hatte Lela nach diesem unglückseligen Powwow nicht mehr gesehen und wäre ihr am liebsten nie mehr begegnet. Ich wollte alles, was mit dieser Geschichte zusammenhing, aus meinem Gedächtnis streichen. Aber als sie in die Klasse kam und ihre merkwürdigen, goldfarbenen Augen auf mich richtete, wurde mir klar, dass sie mich total vergessen hatte. Ich war ein Stück gewachsen, trug mein Haar jetzt schulterlang. Sauber wollte ich aussehen, gut gekämmt, damit sie mich nicht erkannte. Es schien, dass es mir gelungen war. Wir waren eine kleine Klasse, fünfzehn Halbwüchsige, mehr oder weniger interessiert, aber von den Eltern dazu erzogen, sich in Gegenwart von Erwachsenen ruhig zu verhalten. Randalieren entsprach nicht unserer Art, wir neigten mehr zur Selbstzerstörung.
Bisher war es in der Schule stinklangweilig gewesen. Ich hätte nicht sagen können, warum es bei Lela anders war. Sie war nicht unsere einzige indianische Lehrerin, aber sie hatte ein geheimnisvolles Gesicht, das zu sagen schien: »Ich achte euch, aber ich verlange von euch mir gegenüber die gleiche Achtung.« Sie saß selten am Pult wie die anderen Lehrer, sondern ging mit weichen Schritten vor der Tafel auf und ab, immer in Bewegung, sehr leichtfüßig. Das Haar trug sie beim Unterricht zu einem langen Zopf geflochten. Ihre Stimme war sehr tief, so wie ein ganz tiefer Glockenton. Eine dunkle Stimme, deren Schwingungen merkwürdig auf meiner Haut prickelten. Sie brauchte nie laut zu werden. Trotzdem herrschte aufmerksame Stille in der Klasse. Lela sprach von Homer, Shakespeare und Walter Noble Burns. Sie las uns Jorge Luis Borges vor, wobei uns die »Geschichte von den Zweien, die träumten«, am meisten Spaß machte. Lela erzählte uns das Leben dieser Autoren, brachte uns die Zeit näher, in der sie gelebt hatten. Sie sprach von der geistigen Freiheit, von der Macht der Worte.
»Worte sind Träger der Freiheit und der Auflehnung. Sie lösen Freude oder Ergriffenheit aus, verursachen Liebe, Hass oder Schmerz. Sie können auch das Böse erwecken, ihm Wesen, Gestalt und Leben verleihen. Bösartigen Worten müssen wir die Kraft der gutartigen Worte entgegensetzen. Oder die Kraft der Musik.« So kam es oft vor, dass sich die Diskussion von der Literatur entfernte, in Politik, Philosophie oder Religionen abschweifte. Und irgendwann, da spürten wir es ganz deutlich: Der Funke war übergesprungen. Wir vertrauten Lela, wussten, dass sie uns ernst nahm. Klar waren manche von uns nicht bei der Sache. Aber sie brachte uns zum Nachdenken, die Bruchstücke, die wir aufschnappten, formten in unserem Kopf eine Art Puzzle, das sich allmählich, ohne dass wir es merkten, zu klar erfassbaren Bildern zusammensetzte.
Eines Tages las uns Lela einen Text von Vine Deloria vor: »Es ist nicht wichtig, dass es nur noch eine halbe Million von uns Indianern gibt. Wichtig ist allein, dass wir eine überlegene Lebensweise haben. Unsere Ideen werden eure Ideen besiegen. Wir werden das Wertesystem dieses Landes in Fetzen reißen. Wir Indianer werden diesem Land zeigen, wie man menschlich denkt, menschlich handelt. Welches ist der höchste Wert im menschlichen Leben? An dieser Frage wird sich alles entscheiden!« Sie hob den Kopf und sah in die Klasse. »Nun? Was glaubt ihr? Welches ist der höchste Wert im menschlichen Leben?« Es war halb zwölf, ein paar knurrte schon der Magen. Scott grinste und murmelte: »Das Mittagessen!« Scott hatte immer einen Witz parat. Lela sah gleichgültig über ihn hinweg.
»Simon?«
Simon nahm hastig seinen Kaugummi aus dem Mund.
»Ähm … Ehrlichkeit?«
»Ich lasse es gelten«, sagte Lela. »Will noch jemand etwas anderes sagen? «
Angeline hob die Hand.
»Freundschaft?«
Lela nickte ihr zu.
»Freundschaft zwischen den Menschen ist eine Art des Umgangs miteinander. Sie ist die Möglichkeit, einander Dinge ohne Angst zu sagen. Ja, Freundschaft ist wichtig. Aber sucht weiter!«
Kenny drehte den Kopf so, dass er mit einem Auge zur Lehrerin und mit dem anderen zu Boden schielte.
»Ich denke, Frieden?«
Sie lächelte ihn an.
»Friede ist, wenn wir richtig handeln und wenn zwischen jedem Einzelnen und jedem Volk Gerechtigkeit herrscht. Aber Friede entsteht nur, wenn wir den höchsten Wert im menschlichen Leben beachten.«
Ich hob die Hand, zog sie gleich wieder zurück. Aber Lela hatte die Geste gesehen.
»Ja, Shana? Was meinst du?«
Meine Kehle war trocken, als ob ich Sand geschluckt hatte. Alle starrten mich an. Ich konnte keine Sekunde mehr warten, sonst lachte die ganze Klasse.
»Liebe?«, flüsterte ich rau.
Natürlich kicherten ein paar im Hintergrund, doch Lela beachtete sie nicht. Sie sah mich an und ihr Blick erfüllte mein Herz mir