Holldorf wirklich zu beneiden? Im Grunde genommen nicht, denn sie stand ganz allein auf der Welt, hatte keine Freunde und keine Bekannten. Sie lebte nur für die Klinik, für die Medizin und ihre Patienten.
Aber war das wirklich genug, um das Leben einer dreiunddreißigjährigen Frau auszufüllen? Markus Breitner wagte es zu bezweifeln.
2
„Guten Morgen, Herrschaften!“ Oberarzt Dr. Munther betrat den Vorbereitungsraum zum OP, wo sich schon die Narkoseärztin Dr. Holldorf und der chirurgische Assistent, Dr. Breitner, versammelt hatten und mit der jungen Operationsschwester Barbara plauderten.
Sie sprachen von dem neueingelieferten Grafen Wietershausen, der das beste Zimmer der Klinik belegte.
„Sie hätten mich ruhig rufen können“, sagte Schwester Barbara. „Sie wissen doch, dass ich nur zehn Minuten von der Klinik entfernt mein Appartement habe. Mit dem Taxi wäre ich schnell hier gewesen.“
„Nett von Ihnen, aber wir sind gut allein zurechtgekommen“, lächelte Dr. Breitner. „Ich wollte nicht auch Ihnen noch den Sonntag verderben. Gerade genug, dass Dr. Holldorf kostbare Stunden ihrer Freizeit geopfert hat.“
„Selbstverständlich“, murmelte die junge Narkoseärztin nur kurz, dann drehte sie sich nach dem Oberarzt um, der sich an eines der Waschbecken begeben hatte und sich vorschriftsmäßig zu waschen begann.
„Ich habe Frau Meurer schon vorbereitet“, sagte sie. „Sobald Sie fertig sind, können wir anfangen.“
„Frau Meurer? Frau Meurer … warten Sie mal, ich komme im Moment nicht darauf. Wer ist das noch mal?“
„Das Magengeschwür von Zimmer 314“, erklärte die Ärztin.
„Ach ja, das machen wir ja allein. Nachher die Gallenoperation an Direktor Kürschner, die macht der Chef.“
Etwas wie Ironie klang durch die Stimme des Oberarztes, und Schwester Barbara schaute ihn überrascht an. War der blonde, unattraktive Oberarzt etwa neidisch auf den Professor? Gönnte er ihm nicht, dass er den Direktor operierte? Dabei war der Patient selbst es gewesen, der darauf bestanden hatte, vom Klinikleiter persönlich operiert zu werden.
Sie hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn in diesem Augenblick rollten zwei junge Pflegerinnen von der chirurgischen Station das Rollbett mit der Patientin Meurer in den Operationssaal.
Schwester Barbara folgte der Narkoseärztin, die sich nun um die Patientin kümmerte.
Die etwa fünfzigjährige Frau hatte schon am frühen Morgen eine erste Injektion erhalten, sie schlief schon fast und nahm kaum noch wahr, was um sie her geschah.
Nachdem Frau Dr. Holldorf die Patientin an all die komplizierten Apparaturen des Narkosegerätes angeschlossen hatte, wandte sie sich zu den beiden Chirurgen um.
„Ich bin soweit“, verkündete sie. „Die Patientin ist operationsfertig.“
Dr. Munther und Dr. Breitner trugen inzwischen die grüne sterile Operationstracht. Ihre Köpfe waren mit grünen Kappen bedeckt, die Hände trugen schon die Gummihandschuhe.
Gerade bänden zwei Hilfsschwestern ihnen den Mundschutz um. „Wir kommen“, erwiderte der Oberarzt. Seine Stimme klang durch das Tuch ein bisschen gedämpft.
Schwester Barbara hatte schon ihren Platz hinter dem Instrumententisch eingenommen. Sie überprüfte ein letztes Mal, ob auch alle Operationsgeräte an ihrem Platz lagen und griffbereit waren. Dann schaute sie zu den beiden Ärzten hinüber, wobei sie unbewusst ein wenig lächelte, als sie dem Blick des jungen Assistenzarztes begegnete, der gerade seinen Platz eingenommen hatte.
„Also, es geht los.“ Dr. Munther ließ sich das erste Skalpell reichen und begann mit dem Eingriff. Knapp und sachlich klang seine Instruktion, ohne das übliche Geplauder, das oftmals mit dem Eingriff wenig zu tun hatte, aber das viele Chirurgen gern pflegten, vollführte er die Operation, die auch ohne Schwierigkeiten vonstatten ging.
Es war ein routinemäßiger Eingriff, von dem Oberarzt schon hundertmal ausgeführt. Jeder Handgriff saß, er wusste genau, was im nächsten Moment zu tun war.
Dies erwartete er aber auch von seinen Mitarbeitern, vor allem von der Operationsschwester. Ihm war es am liebsten, wenn diese das benötigte Instrument schon in der Hand hielt, noch bevor er es angefordert hatte.
Und in Schwester Barbara hatte er eine Helferin gefunden, die ganz und gar seinen Anforderungen entsprach.
Eigentlich beachtlich für ihr Alter, dachte er bei sich. Das hätte ich ihr nicht zugetraut, als sie vor einem Vierteljahr bei uns anfing. Ich hatte wegen ihrer Jugend Bedenken, die sich aber glücklicherweise nicht bewahrheitet haben.
Doch er hütete sich, eine lobende Bemerkung zu machen. Das war nicht Dr. Munthers Art. Er sagte nur, nachdem der Eingriff an Frau Meurer beendet war:
„Ich danke Ihnen, meine Herrschaften!“
Dann wandte er sich an eine unsterile Schwester. „Bitten Sie die Schwestern von der Chirurgie, den Direktor herunterzubringen, den der Chef gleich operieren soll. Ich denke, Professor Gerstenbach kommt jede Minute. Er wollte gegen neun Uhr hier sein.“
Schnell warf Schwester Barbara einen Blick auf die große Wanduhr, die an der Längsseite des Operationssaales auf den blauen Kacheln hing. Drei Minuten nach neun – ob Professor Gerstenbach kommen würde?
Bang fragte es sich das junge Mädchen. Sie hatte Angst um den Professor. Angst, dass er sich wieder mit einer offensichtlichen Ausrede vor der Operation drücken würde, so, wie er es in den letzten Wochen immer häufiger getan hatte.
Was fehlte ihm nur? Warum tat er so etwas? Warum gab er seinen Untergebenen Grund, über ihn zu spotten und zu lästern? Warum erniedrigte er sich so?
Dabei war er ein ausgezeichneter Arzt, ein glänzender Chirurg, der seit Jahrzehnten in der Fachwelt einen ausgezeichneten Ruf genoss.
War es vielleicht das Alter, das ihm zu schaffen machte? Er war mit seinen achtundsechzig Jahren schließlich nicht mehr der Jüngste. Und schon mehrmals hatte Barbara ihn dabei ertappt, dass er sich die Augen rieb und sich mit einer müden Geste über die Stirn strich.
Es hatte ihr immer ein wenig weh getan, ihn so müde sehen zu müssen, da stets eine tiefe Resignation in seinem Gesicht zu lesen stand.
Während sie ihren Gedanken nachhing, hatte sie sich darangegeben, das Operationsbesteck zu wechseln. Die benutzten Skalpelle, Klammern und Nadeln legte sie in den Sterilisator, und aus dem zweiten silberglänzenden, völlig keimfreien Behälter nahm sie neue Operationsinstrumente heraus.
„Sind Sie schon wieder bereit, Schwester Barbara?“ Dr. Breitner, der junge Assistenzarzt, trat zu ihr. „Sie sind mit Abstand die tüchtigste OP-Schwester, die wir je hier hatten“, lobte er.
Barbara errötete. „Ich tue nur meine Pflicht“, gab sie leise zur Antwort.
„Das tun wir alle, aber wie wir es tun, das ist wichtig.“
Der junge Arzt trat noch ein wenig näher zu dem schönen Mädchen hin. Verliebt betrachtete er das ebenmäßige Gesicht der Schwester, ihren kleinen, nur zart rosa geschminkten Mund, ihre blauen Augen, die von einem Kranz dichter Wimpern umrahmt wurden und ihre süße Stupsnase, die dazu verlockte, geküsst zu werden.
Jetzt fiel auch noch ein kleiner Sonnenstrahl durch die mattierten Fenster des Operationssaales, und er zauberte Reflexe in das blonde Haar Barbaras, so dass es goldene Kringel bekam. Das Häubchen saß keck auf dem halblangen Haar, das Schwester Barbara im Operationssaal stets zusammengebunden trug, das in ihrer Freizeit jedoch in Wellen auf ihre Schultern fiel.
„Barbara“, sagte Markus Breitner in diesem Augenblick, „gehen Sie heute Abend endlich einmal mit mir essen? Ich habe Sie schon so oft darum gebeten, doch immer haben Sie mir einen Korb gegeben. Warum eigentlich? Bin ich Ihnen so unsympathisch?“
Die junge