noch mal von vorn losging.
„Wohin sollt ihr mich bringen?“
Ein Grab hätte nicht besser schweigen können als die beiden.
Trotzdem war ihnen anzusehen, dass sie Angst vor mir hatten. Angst vor mir und meinem Ballermann ...
9
Mary Scott ließ die Jalousie vor dem Fenster herunterrasseln. Dann begann sie nach einem genauen Plan den Schmuck abzunehmen. Die Brosche wanderte in die ohnedies schon zu reichlich gefüllte Schatulle, in der kostbare Juwelen glitzerten, die Perlenkette, die James ihr abgenommen hatte, wanderte hinterher. Dann streifte die alte Frau die beiden Brillantringe von den dürren Fingern, nahm hinterher das Armband ab. Als sämtlicher Schmuck in der Schatulle verstaut war, schloss sie den Deckel und trug das mit Schweinsleder überzogene Köfferchen zum Wandsafe, wo sie es sorgfältig einschloss.
Nun begann sie sich zu entkleiden. Sie zog den Reißverschluss ihres altmodischen Kleides auf und streifte es von ihren hageren Schultern. Das Gebilde aus teurem Stoff raschelte an ihrer mageren Figur nach unten. Sie stieg aus dem Kleid und warf es auf das Bett.
Dann begab sie sich ins Bad. Die Wanne war bereits bis an den Rand gefüllt. Sie drehte den Warmwasserhahn ab. Der Spiegel des Schrankes war vom Dampf beschlagen. Sie konnte sich darin nicht sehen. Das störte sie. Deshalb nahm sie ein Handtuch und wischte so lange über den Spiegel, bis ihr faltiges Gesicht darin wieder zu erkennen war.
Ein riesiger Schaumberg türmte sich in der Wanne. Mary Scott prüfte die Temperatur und war damit zufrieden. Wenn auch der Arzt immer wieder vor zu heißen Bädern warnte — sie liebte ein heißes Bad.
Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und streifte das Unterhemd ab. Es hatte die Farbe von blassem Flieder. Es passte nicht zu dem rehbraunen Kleid, das sie darüber getragen hatte, doch das störte sie nicht. Außer ihr bekam dies ja niemand zu sehen.
Nun stand sie vor dem Wandspiegel. Sie betrachtete sich nachdenklich, während sie sich weiter entkleidete. Alles war runzelig, alt, eingetrocknet, schlaff. Sie war kein schöner Anblick mehr.
Dabei war sie einmal eine schöne, attraktive Frau gewesen.
Einmal! Gott, wie lange war das schon her. Die Männer, die ihr damals den Hof gemacht hatten, lebten heute nicht mehr. Keiner von ihnen lebte mehr. Nur sie lebte immer noch.
Immer noch! Sie war neunundsiebzig. Neunundsiebzig und allein. Sehr allein.
James? Der zählte nicht. James war Chauffeur. Ihn zählte sie nicht zu ihresgleichen.
Mary Scott trug einige Illustrierte ins Bad. Sie las gern, wenn sie in der Warme saß. Sie las gern und hörte gern Musik dazu. Deshalb trug sie auch das Radio ins Bad. Sie hatte extra dafür ein langes Kabel gekauft, denn die strengen Sicherheitsvorschriften gestatteten keine Steckdose im Badezimmer.
Sie stellte das Radio an.
„Mozart“, sagte sie nach den ersten Takten, die sie vernahm. Sie lauschte kurz. Dann nickte sie. „Konzert für Klavier und Orchester, Es-Dur, Köchelverzeichnis ...“ Das wusste sie allerdings nicht.
Bevor Mary Scott nun in die Wanne kletterte, um ihr Bad zu nehmen, holte sie ihre Zigaretten und machte sich einen Drink zurecht. Dann stieg sie mitten in den Schaumberg hinein und versank ganz langsam darin. Als sie schließlich saß, reichte ihr die Schaumkrone bis ans Kinn.
In diesem Moment schwang draußen die Tür auf. Mary Scott konnte es nicht sehen. Sie hörte auch nichts. Erstens, weil das Radio spielte, und zweitens, weil die eintretende Person sich bemühte, kein verräterisches Geräusch zu verursachen.
Mrs. Scott zündete sich eine Zigarette an, ließ das Stäbchen im Mundwinkel hängen, paffte genießend und langte nach der obersten Illustrierten. Sie betrachtete das Covergirl mit einem ärgerlichen Blick. Die Kleine war aufregend blond, aufregend schön und aufregend nackt.
„Schamlos!“, sagte die Alte verbittert. „Einfach schamlos, wie sich diese jungen Mädchen heute aller Welt zeigen!“ Sie blätterte schnell um.
Draußen im Schlafzimmer huschte der Schatten auf die Badezimmertür zu. Er stieß gegen den Hocker, der vor dem Frisiertischchen stand.
Ein schabendes Geräusch drang an Mrs. Scotts Ohr. Sie blickte erstaunt auf, ließ die Illustrierte sinken, nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel und schnippte die Asche neben der Wanne auf den Boden. Sie blickte zur Tür hin, konnte jedoch niemand sehen.
Hatte sie sich geirrt? Hatte sie nun ein Geräusch vernommen oder nicht? Sie war sich nicht sicher.
Natürlich dachte sie sofort an James.
War er noch einmal zurückgekommen? Sie lauschte. Um nicht abgelenkt zu werden, drehte sie das Radio vorübergehend etwas leiser. Sie streckte den dürren Hals aus dem Schaum und hielt den Atem an.
Nichts! Alles war still.
Seltsam, dachte sie. Was kann das für ein Geräusch gewesen sein?
„James?“, rief sie fragend.
Nichts!
„James!“
Keine Antwort.
Sie schüttelte den Kopf. Eigenartig. Obwohl es vollkommen still dort draußen war, hatte sie das Gefühl, dass sich jemand in ihrem Schlafzimmer befand. Es war ein unerklärliches, ein unheimliches Gefühl.
James konnte es nicht sein. Er hätte auf ihren Ruf geantwortet. Wer war es aber dann? War es überhaupt jemand? Oder bildete sie sich das alles bloß ein?
Wenn sie nicht in der Wanne gesessen hätte, wenn sie nicht nackt gewesen wäre, wäre sie nun hinausgegangen, um nachzusehen. Eine innere Unruhe hatte sie erfasst. Warum wohl?
Abermals schüttelte sie den Kopf.
Blödsinn! Es war sicher niemand draußen. Sie hatte sich verhört. Bestimmt hatte sie sich verhört.
Mary Scott blickte auf das Radio, das leise neben der Badewanne dudelte.
Atmosphärische Störungen vielleicht?, fragte sie sich. War dieses schabende Geräusch aus dem Radio an ihr Ohr geklungen?
Natürlich. So war es gewesen. Es hatte im Radio gekracht, wie das öfter mal vorkommt, und sie hatte irrtümlich geglaubt, dieses Geräusch hätte jemand in ihrem Schlafzimmer verursacht.
Mit einem dürftigen Lächeln um die dünnen Lippen langte sie nach dem Radio und drehte es wieder lauter. Mozart lullte sie in schöne Klänge und ließ sie dieses gefährliche Geräusch von vorhin bald vergessen.
Sie nahm die Illustrierte wieder zur Hand. Sie drückte die Zigarette aus und lange nach dem Drink. Während sie einen Artikel über Banknotenfälschung las, nippte sie mechanisch an ihrem Glas.
Plötzlich füllte ein dunkler Schatten die Tür zu ihrem Badezimmer vollkommen aus. Der Kopf der alten Frau flog entsetzt in diese Richtung. Ihre Augen huschten über die eintretende Person, sie weiteten sich in grenzenloser Bestürzung.
Ein eisiger Schreck jagte in ihre alten Glieder. Das Glas entglitt ihren kraftlos gewordenen Fingern und zerschellte auf den Fliesen vor der Wanne. Sie stieß einen langgezogenen, gellenden Schrei aus ...