Islands. Es ist jedoch völlig unklar, wie verbreitet ME/CFS in der Bevölkerung tatsächlich ist.
■ Sehr wenige Studien gibt es z.B. über Risiken für Folge-Erkrankungen oder über die gesellschaftlichen und sozioökonomischen Auswirkungen von ME/CFS.
■ Bislang wurden, vor allem aufgrund des hohen Aufwands, nur wenige Studien zu schwer- und schwerstbetroffenen Patienten durchgeführt.
Kaum vermittelbare Komplexität
Die Liste ließe sich zwanglos durch weitere Puzzleteile fortsetzen, aber vermutlich ist schon jetzt klargeworden, dass dieses Krankheitsbild so komplex ist wie kaum ein anderes und sich kaum dingfest machen lässt. Um dieser Fülle an Unklarheiten und Verwirrungen Herr zu werden, helfen zwei Fragen:
Was wissen wir?
Was wissen wir nicht?
ME/CFS erkennen und verstehen ist der Versuch, diesen beiden Fragen nachzugehen.
II KONTROVERSEN UND HYPOTHESEN
Wo Beweise fehlen, bleibt Raum für gegensätzliche Interpretationen. Verfechter verschiedener Ansätze streiten sich bis heute. Das zeigt sich u.a. sehr deutlich in der Kontroverse um die sogenannte PACE-Studie, die in Kapitel 2.1 dargestellt wird.
In the mind or in the brain?
■ Psychologisch/psychiatrisch ausgerichtete Fachgesellschaften gehen von der Hypothese aus, dass die ME/CFS-typischen Beschwerden durch falsche Krankheits-Überzeugungen entstehen, die mit Hilfe von kognitiver Verhaltenstherapie behandelt werden könnten. Die unbekannte Ursache und die fehlenden Biomarker legen in dieser Lesart die Annahme einer psychischen Verursachung nahe. ME/CFS ist in der weltweit gültigen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheits-Organisation (WHO) jedoch eindeutig als neurologische, nicht als psychogene oder psychiatrische Erkrankung gelistet (ICD-G 93.3).
■ Die biomedizinisch orientierte Ärzteschaft versteht ME/CFS derzeit als Sammeldiagnose. Aktuell werden Biomarker erforscht, die eine Klassifizierung der ME/CFS-Patienten in Untergruppen erlauben. Dabei spielen z.B. immunologische, infektionsoder stoffwechselbezogene, neurologische sowie (epi-)genetische Faktoren eine Rolle.
Grundlagenforschung und klinischer Alltag
An den Universitäten erfahren zukünftige Ärzte kaum etwas über molekularbiologische Stoffwechselprozesse, die für das Verständnis der ME/CFS entscheidend sind. Diese werden weder in der ärztlichen universitären Ausbildung als praxisrelevantes Wissen vermittelt, noch sind sie im Ärzte- oder Klinikalltag bekannt. Auch in der medizinischen Fachliteratur werden die komplexen biochemischen Vorgänge kaum praxisrelevant beschrieben.
Erschwert wird die Situation auch dadurch, dass unser Medizinsystem nach Fachdisziplinen gegliedert ist - für „Ganzkörper-Erkrankungen“ wie ME/CFS, die sich keinem Organ und keiner einzelnen Fachrichtung zuordnen lassen, gibt es keine Ansprechpartner. Keine Fachgesellschaft ist zuständig.
Abb. II/1 Rätsel ME/CFS
Zwei Faktoren bewirken, dass ME/CFS seit Jahrzehnten kontrovers interpretiert wird: Bislang konnte noch keine Ursache für das Entstehen (Ätiologie) von ME/CFS gefunden werden. Es gibt keinen Biomarker/Laborwert, der ME/CFS-spezifisch wäre und damit eindeutig belegen würde, ob ein Patient an ME/CFS erkrankt ist oder nicht.
Die Grundlagenforschung zu ME/CFS wurde bisher kaum wahrgenommen und die Überführung (Translation) aktueller Forschungsergebnisse in den klinischen Alltag findet nicht statt. Diese Überführung ME/CFS-relevanter Forschungsergebnisse in den Praxisalltag wird Jahre bis Jahrzehnte dauern. ME/CFS-Patienten und Behandler können jedoch nicht Jahre und Jahrzehnte warten.
Aufbruch! Und ein Artikel in der „Nature“
Nach vielen Jahrzehnten des scheinbaren Stillstands, in denen ME/CFS ignoriert und diskreditiert wurde, herrscht derzeit in der „Community“ Aufbruchstimmung: mehrere Studien geben Anlass zu der Hoffnung, dass es in absehbarer Zeit endlich Biomarker geben wird, die eindeutige diagnostische Aussagen zulassen werden. Mit Hilfe neuester Technologien, die in Millisekunden tausende von Molekularstrukturen untersuchen können, kommen internationale Spitzenforscher dem Rätsel ME/CFS näher. Diese Entwicklung wurde nun endlich auch z.B. von den US-amerikanischen Gesundheitsbehörden National Institutes of Health (NIH) und von führenden Wissenschaftskreisen mit mehr Ernsthaftigkeit wahrgenommen.
Die Wissenschaftsjournalistin Amy Maxmen stellte die derzeitige Forschungsentwicklung in einem dreiseitigen Artikel in der renommierten Fachzeitschrift Nature dar, der am 3. Januar 2018 veröffentlicht wurde. Ihrem Bericht gab sie den Titel: A reboot for chronic fatigue syndrome research - Research into this debilitating disease has a rocky past. Now scientists may finally be finding their footing. Auf Deutsch: „Ein Neustart für die Erforschung des chronischen Müdigkeitssyndroms - Die Erforschung dieser kräftezehrenden Krankheit hat eine sehr steinige Vergangenheit. Jetzt können Wissenschaftler endlich Fuß fassen.“
Vielleicht wird dieser Nature-Artikel zum Katalysatoren der längst überfälligen Kehrtwende? II /1, Nature
Kapitel 1
ME/CFS:
Ein rätselhaftes Krankheitsbild
1.1 EIN KRANKHEITSBILD MIT VIELEN NAMEN
Seit dem ersten Auftreten von ME/CFS Mitte des vergangenen Jahrhunderts war immer im gleichen Atemzug von der Rätselhaftigkeit dieser Erkrankung die Rede. Sie gehört zu den vielschichtigsten und herausfordernsten Krankheitsbildern unserer Zeit.
Die Verwirrung fängt schon bei der Namensgebung an. Wer sich mit dem Thema beschäftigt, trifft auf mehrere Bezeichnungen, mit denen das Krankheitsbild im Laufe der Zeit und an verschiedenen Orten versehen wurde.
Hier einige der Bezeichnungen, die im engeren oder weiteren Umkreis für das Krankheitsbild, um das es hier geht, verwendet wurden oder werden. Einige sind diskriminierend.
■ Ch ronische Epstein-Barr-Infektion/CEBV
■ Ch ronische Mononucleosis Infektion (Mononukleose = Pfeiffersches Drüsenfieber)
■ Yuppie-Grippe
■ Non-HIV AIDS
■ Ep idemische Neuromyasthenie
■ Idiopathisches Chronisches Müdigkeitsund Muskelschmerz Syndrom (idiopathisch: ohne bekannte Ursache)
■ Postvirales Fatigue Syndrom
■ PIFS: Postinfektiöses Fatigue Syndrome
ME/CFS: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome
In diesem Buch verwende ich die heute weltweit gebräuchlichste Abkürzung ME/CFS als Sammelbegriff für dieses Krankheitsbild. ME und CFS werden meist synonym verwendet, ME vor allem in Europa und in Kanada, CFS eher in den USA und in Australien.
ME steht für Myalgische Enzephalomyelitis, dabei steht das Entzündungsgeschehen im Vordergrund. (Myalgie: „Muskelschmerz“, Enzephalomyelitis: Entzündung von Gehirn und Rückenmark). Dieser Begriff wurde Ende der 1950er Jahre geprägt. Als „Myalgische Enzephalomyelitis“ ist die hier dargestellte Krankheit seit 1969 (!) von der Weltgesundheits-Organisation (WHO) als neurologische Erkrankung klassifiziert (aktuell ICD-10; G 93.3).
CFS ist die Abkürzung für engl. „Chronic Fatigue Syndrome“. Diese englischsprachige Bezeichnung wurde 1988 durch die sogenannte „Holmes-Definition“ geprägt und ersetzte die Bezeichnung „Chronic Epstein-Barr virus syndrome“. 1.1 /1, Holmes et al. Im deutschen Sprachraum wird die Erkrankung „Chronisches Müdigkeits- oder Erschöpfungssyndrom“ genannt. ▸ Siehe Kapitel 1.3.1
Der Begriff Syndrom