Sibylle Reith

ME/CFS erkennen und verstehen


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ist es, eine relativ homogene ME-Patientengruppe zu bilden, um sie mit anderen Patientenpopulationen vergleichen zu können und um spezifische ME-Krankheitsmechanismen zu erforschen.

      Patienten, die bislang nach unterschiedlichen Konsenskriterien eine ME oder CFS-Diagnose bekommen haben, sollen anhand der ME-ICC 2011 neu beurteilt werden Wer diese Kriterien nicht erfüllt, hat nicht ME, sondern fällt in die umfassendere, heterogene Klassifikation „CFS“, die zukünftig durch weitere Klassifizierungen in Subgruppen unterteilt werden kann.

      Die Internationalen ME-Konsenskriterien 2011 gelten aktuell verbindlich als wissenschaftlich-medizinische diagnostische Grundlage für ME. Sie sollen einerseits dazu dienen, diagnostisch eindeutig Patientengruppen für die Forschung bestimmen zu können, andererseits definieren sie Richtlinien für die Behandlung. Damit wurde ein wichtiger Beitrag zu einer, dem derzeitigen Forschungsstand entsprechenden, objektivierenden Klassifizierung geleistet.

      Patienten könnten anhand dieser Kriterien eine fachärztliche Diagnostik ihrer Krankheit erwarten. Die Realität sieht aktuell leider noch anders aus.

       Zum Weiterlesen:

      Der im Jahr 2012 herausgegebene International Consensus Primer for Medical practioners (englischsprachiger Download) basiert auf den ME-ICC 2011. Dieser Konsensleitfaden wurde auf Deutsch übersetzt. ▸ Siehe Anhang 3

      Auf den Seiten der Lost-Voices-Stiftung finden Sie einen Vergleich verschiedener Konsenskriterien: www.lost-voices-stiftung.org/ was-ist-me/diagnosekriterien/

      Vergleich der Konsenskriterien (Englischsprachig): Case definitions and diagnostic criteria for Myalgic Encephalomyelitis and Chronic fatigue Syndrome: from clinical-consensus to evidence-based case definitions. Gerwyn Morris, Michael Maes 2013 1.2/2, Morris, Maes

      1.2.1 ZUR VERWENDUNG DES BEGRIFFS „ME/CFS“ IN DIESEM BUCH

      Warum ist in diesem Buch im Folgenden nicht ausschließlich von ME die Rede, wie die ME-ICC 2011 es nahelegen, sondern von ME/CFS? Die Begrifflichkeiten bei diesem Krankheitsbild sind ein Dilemma. Denn kaum haben wir verstanden, dass ME sich unterscheidet von CFS, werden wir mit mehreren Stolpersteinen konfrontiert:

      ■ Die bisherigen Studien (auch aktuelle) verwenden entweder ME oder (meistens) CFS oder eine Kombination. Es klappt also nicht, ausschließlich den Begriff ME zu verwenden und dann Studien zu CFS oder zu ME/CFS darzustellen. Auch wegweisende Studien wie z.B. die Naviaux-Studie verwenden den Begriff „Chronic Fatigue SyndroME/CFS“. ▸ Siehe Kapitel 4.8

      ■ Der Begriff ME, ist nicht unumstritten, weil es nur wenige direkte Belege für eine Gehirnentzündung (Enzephalomyelitis) gibt.

      ■ Viele Patienten wissen derzeit nicht, ob sie ME oder CFS haben.

      ■ Bei nationalen und internationalen Patienten-Organisationen und in Publikationen werden beide Begriffe verwendet.

      Da dieses Buch den Fokus auf die derzeitig höchst unbefriedigende medizinische und soziale Versorgung richtet, scheint es mir derzeit gerechtfertigt, beide Abkürzungen zu verwenden. Es ist zu hoffen, dass für zukünftige Studien die ME-ICC 2011 zugrunde gelegt werden. Dann können Aussagen getroffen werden, die ausschließlich Patienten betreffen, die diese eng gefassten Kriterien erfüllen. Auch für „CFS“ wird es dann sehr wahrscheinlich Subgruppen mit unterschiedlichen Biomarkern geben. Mehrere Studien konnten potentielle Biomarker für ME und für CFS zeigen, die absehbar in naher Zukunft verwendet werden können.

      In den folgenden Kapiteln werden viele Studien beschrieben. Da in diesem Buch auf sehr viele Studien Bezug genommen wird, ist nicht durchgehend vermerkt, ob die Probanden als CFS, ME/CFS oder als ME-Patienten bezeichnet wurden. Die Details der Studien können Sie jedoch anhand der Quellenangaben erfahren.

      Individualisierte Diagnostik

      Erkenntnisse und Erfahrungswerte zu multisystemischen Erkrankungen nehmen ständig zu. Diese Erkenntnisse sind eng mit der rasanten Entwicklung der Zellbiologie und der Molekularbiologie verknüpft, die durch neue Techniken zu einer explosiven Vermehrung von Wissen über Zellaktivitäten geführt hat. Jeder einzelne Patient kann schon heute auf seine individuelle Biosignatur untersucht werden - das wäre vor 10 Jahren noch undenkbar gewesen.

      Diese Erkenntnisse revolutionieren derzeit auch schon unser Diagnose-System. Denn wo bisher nach unterschiedlichen Diagnosen mit unterschiedlichen Therapien behandelt wird, wird zukünftig möglicherweise diagnoseübergreifend nach biologisch basierten Merkmalen behandelt. Ein multisystemisch erkrankter Mensch wird dann z.B. folgende Untersuchungen durchlaufen:

      ■ Immunologische Merkmale/Infektion/ Entzündung

      ▸ Siehe Kapitel 4.3; Kapitel 4.5

      ■ Merkmale des Stoffwechsels, Stoffwechselstörungen

      ▸ Siehe Kapitel 4.8; Kapitel 4.6.1

      ■ Genetische/epigenetische Merkmale, z.B. genetische Untersuchung der Entgiftungsfunktion und/oder der Stress-Antwort, weitere

      ▸ Siehe Kapitel 4.3 / Kapitel 4.9.1

      ■ Darmgesundheit/Mikrobiom

      ▸ Siehe Kapitel 4.11

      ■ Diagnostik des Energiestoffwechsels/ Mitochondrien-Gesundheit

      ▸ Siehe Kapitel 4.8

      ■ Diagnostik des Nervensystems

      ▸ Siehe Kapitel 4.10

      Die Therapie richtet sich dann nicht nach einer Diagnose (z.B. ME oder CFS oder anderen), sondern nach den tatsächlich vorgefundenen objektivierbaren Merkmalen.

      In dem in der Einleitung erwähnten Band 2 MULTISYSTEM-ERKRANKUNGEN erkennen und verstehen werden unterschiedliche Krankheitsbilder beschrieben und verglichen, die mit multisystemischen Fehlregulationen einhergehen. Dabei zeigt sich, dass wir es kaum mehr mit abgrenzbaren, eindeutigen Krankheitsausprägungen zu tun haben, sondern mit komplexen Krankheitsbildern, die miteinander verflochten sind und sich überlappen. Diese Krankheitsbilder sind unscharf, die Diagnosestellung ist oft kompliziert. Es gibt ein unüberschaubares Geflecht von Ursachen, Auslösern und verstärkenden Faktoren.

      70-80 % aller Patienten haben heute „nur“ funktionelle Störungen und rund 50 % aller Untersuchungen enden ohne Befund. Das bedeutet, dass sie ohne spezifische Untersuchungen, die über den Standard hinausgehen, nicht als organische Schädigungen erklärbar sind.

      Krankenkassen und Versorgungswerke, sowie deren Gutachter werden sich damit anfreunden müssen, dass die Zeiten, in denen alle Krankheiten „etikettiert“ werden konnten, vorbei sind.

      Bei multisystemischen Erkrankungen werden wohl Begriffe wie „Formenkreise“ oder „Spektrum-Erkrankungen“ und eine spezifische Diagnostik Einzug halten. Je früher, desto besser.

      1.3 FRAGEBOGEN ZU ME/CFS

      Für ME/CFS-Patienten bedeuten Alltagstätigkeiten Gipfelbesteigungen. Schon nach scheinbar geringfügigen Anstrengungen brauchen Betroffene Stunden oder Tage zur Regeneration, Schwer- und Schwerstbetroffene oft sogar Wochen. Die meisten Patienten können nicht mehr arbeiten, viele sind pflegebedürftig und/oder bettlägerig. Die Patienten erleben ein krasses Missverhältnis zwischen einer körperlichen oder kognitiven Belastung und der anschließenden globalen Zustandsverschlechterung, die Englisch als „Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion“ bezeichnet wird und sich mit PENE abkürzen lässt. ▸ Siehe Kapitel 5.1: Differenzierung Fatigue, PEM, PENE

      Für Nichtbetroffene ist kaum vorstellbar, dass Schwer-Erkrankte sich nach scheinbar mässigen Anstrengungen unverhältnismäßig lange ausruhen müssen und eine generelle Zustandsverschlechterung erfahren (Schmerzen, kognitive Störungen, Schlafstörungen und viele weitere). Dazu kommen weitere chronische unspezifische, oft nicht lokalisierbare Symptome, wie sie auch bei anderen Erkrankungen auftreten.

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